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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Wohnung. Sie würde niemals mit uns zusammenwohnen.«
    »Es klingt jedenfalls spannend.«
    »Würdest du nicht ins Ausland gehen, wenn du die Möglichkeit hättest?«
    »An dem Tag, an dem Mårten gestorben ist, habe ich wirklich davon phantasiert, mir für einige Monate freizunehmen. Jetzt kommt diese Möglichkeit zwei Jahre zu spät. Aber in Schweden, nicht im Ausland.«
    »Bist du damit zufrieden, was du heute erfahren hast?«
    »Wie meinst du das?«
    »Über deine Großmutter?«
    »Es hat mich vor allem verwirrt. Dass ein gewisser Anton mit einer Narbe auf der Wange verschwindet. Und dass mein Großvater Jakob, ebenfalls mit einer Narbe auf der Wange, meine Großmutter heiratet. Die wiederum in einem Haus gearbeitet hat, wo der verschwundene Anton mit dem Sohn befreundet war. Dass zwei Männer mit gleichen Narben so viel miteinander zu tun haben sollen, ist doch seltsam. Und dann Lea, Omas Freundin, die schwanger wird und mit besagtem Sohn des Hauses durchbrennt. Der vermutlich homosexuell war und vielleicht sogar ein Verhältnis mit dem Mann mit der Narbe hatte, der Anton hieß und nicht Jakob. Und Rakel wird fast gleichzeitig mit Lea schwanger. Im Moment verstehe ich nur noch Bahnhof.«
    »Jedenfalls waren diese Lea und deine Oma ja wohl heiß umschwärmt. Sie waren nicht nur hübsch, sondern auch temperamentvoll. Ich kann verstehen, dass die Herren in ihrer Umgebung nicht an sich halten konnten.«

    Zum ersten Mal wurde die Stimmung ein wenig lockerer. Sie drehte den Kopf und sah, dass Niklas lächelte. Seine Daumen trommelten auf dem Lenkrad.
    »Ja, danke.«
    »Bestimmt hatte sie Ähnlichkeit mit dir. In mehrerer Hinsicht. «
    »Anita ist sehr sympathisch.«
    »Ja. Das ist sie.«
    »Sieht auch gut aus.«
    »Ja, das tut sie. Immer. Sie wollte übrigens wissen, warum du nicht deine eigenen Verwandten nach der Geschichte deiner Großmutter fragst.«
    Ihre eigenen Verwandten. Ja, es war nur eine Zeitfrage, ehe sie wieder aufbrechen müsste. Nur Onkel Ivar konnte wissen, warum er einem anderen Mann so ähnelte, der ein anderes Dienstmädchen zur Mutter hatte. Zumindest müsste er eine Ahnung haben. Onkel Ivar. Geboren im selben Monat und im selben Jahr wie Leas Sohn. Onkel Ivar, der immer Kontakt zu ihr gehalten hatte. Der zwei Jahre zuvor, mit achtundachtzig Jahren, erhobenen Hauptes an Mårtens Sarg getreten war und ein Gedicht darüber vortrug, dass alles vergeht und alles besteht.
    »Sie hat recht. Ich rufe morgen Ivar an und frage, ob ich ihn besuchen darf.«
    »Willst du also wieder auf Reisen gehen?«
    »Was soll ich denn sonst machen? Mäusedreck hin und her fegen?«
    Niklas schüttelte den Kopf. Als er am Fähranleger hielt und sie begriff, dass er vorhatte, sie abermals zu begleiten, widersprach sie. Er reagierte nicht. Schweigend gingen sie an Bord der Fähre und schauten aufs Wasser hinaus, wo die Boote still an den Stegen lagen. Kurz darauf hatten sie die Insel erreicht
und gingen auf das Haus zu. Ein einsames Moped fuhr den Kai entlang. Aus einem Impuls heraus bog sie ab und ging in den Pavillon beim Grand Hotel. Niklas folgte ihr und trat neben sie.
    »Manchmal sollte man gewisse Dinge auf sich beruhen lassen«, sagte er nach einer Weile.
    »Wie meinst du das?«
    »Das bedeutet, nicht alle Familiengeheimnisse in Erfahrung zu bringen. Vielleicht gibt es einen Grund, warum sie begraben wurden, meine ich.«
    Sie hatte keine Lust zu antworten. Ihre Hände und Knie brannten, schienen gleich zu ertauben. So war es auch mit ihrem Zorn. Auch er verflog.
    »Ich habe so eine starke Erinnerung. An Peter. Er war vielleicht acht oder neun. Er trug eine blaue Jacke. Ich wollte ihn von der Schule abholen. Er lief immer über eine Anhöhe, ich stand auf der Straße und wartete. Es war ein schöner Septembertag. Klarer Himmel, gefärbte Laubbäume, die Luft herbstlich frisch. Ich bog um die Ecke und stand am Ende der Straße, die zu dieser Anhöhe führte. Da sah ich Peter. Genauer gesagt, ich sah einen blauen Punkt, der zwischen den Steinen herumkletterte.
    Ich blieb stehen und sah, wie er herunterstieg. Systematisch und gelassen, mit dem Rucksack auf dem Rücken. Nach einer Weile stand er auf der Straße, hob den Blick und entdeckte mich. Und lief los. Ich streckte die Arme aus, und alles wurde gleichsam schärfer. Weiße Wolken, gelbe Bäume, rote Häuser. Ein blauer Punkt, der auf mich zugeschossen kam. Und dann warf er sich in meine Arme. Ich drückte ihn an mich und dachte, schöner kann es nicht werden. Das

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