Der geheime Brief
Göteborg zu begleiten, damit sie ihre Ermittlungen fortsetzen könnte. Sie sagte sofort zu, aus Angst, wieder mit sich selbst konfrontiert zu werden. Sie hatte Gösta Levander erreicht und diesen Termin ausgemacht. Als Niklas gegangen war, blätterte sie ziellos in dem Karton aus dem Schuppen und las alte Annoncen. Bezaubernde weiße Schuhe und Stiefel, Halbschuhe aus allen modernen Leder- und Seidenkombinationen. Schuhanfertigung. Damenstiefel ab kr. 10,-- Eine Gelegenheit, die niemand versäumen darf! Diese Formulierungen hatten sicher ebenso verlockend gewirkt wie die coolen Werbesprüche von heute. Gewisse Dinge, wie die Anziehungskraft schöner Schuhe, schienen sich niemals zu ändern.
Jetzt waren sie unterwegs zu einem der Lokale, die in Restaurantführern erwähnt wurden. Anita und Niklas wollten sich dort zum Essen treffen. Inga wusste, dass auch sie willkommen
wäre, wollte sich aber nicht aufdrängen. Sie musste eine Entschuldigung dafür finden, dass sie anderweitig aß und dann mit den beiden zurück nach Marstrand fuhr, was schwer genug werden würde. Wie ein herrenloser Hund würde sie auf der Rückbank sitzen, im Gefühl, die Vertraulichkeit des Paares zu stören.
Sie stieß mit dem Fuß gegen einen Bordstein, rutschte aus, fiel vornüber und fluchte. Als sie aufstand, tat es weh. Das Schmutzwasser hatte ihre Schuhe verfärbt und hässliche Kratzer hinterlassen. Ein Paar viktorianischer Schnürstiefel, angefertigt nach altem Muster. Sie ähnelten den Stiefeln, die sie in den Werbeblättern im Karton gesehen hatte. Sie hatte diese Schuhe in New York gekauft, und ab und zu, wenn sie sich elend fühlte, hervorgeholt und angezogen. Sie hatten um einiges mehr gekostet als zehn Kronen.
Sie fluchte ausgiebig und spürte, wie das kleine Wesen mit der Machete wieder auf ihre Innereien einhackte. Bagatellen wie diese konnten alles ins Wanken bringen, mit der spiegelverkehrten Logik der Trauer. Niklas fragte besorgt, ob sie sich verletzt habe, aber sie wehrte sein Mitleid eilig ab, obwohl ihre Knie vor Schmerz brannten. Er war klug genug, nicht nachzufragen.
»Ich habe mehr über diese große Schlacht auf der Nordsee herausgefunden.«
»Wirklich?«
»Es war nicht weiter schwer, Informationen zu finden. Die Schlacht am Skagerrak, oder, wie sie auch genannt wird, die Schlacht von Jütland, ist geradezu legendär. Der einzige echte Zusammenstoß zwischen deutschen und englischen Schlachtschiffen während des Ersten Weltkriegs. Es ist wohl die größte Seeschlacht der modernen Zeit. Sie hat fast einen Tag gedauert. Insgesamt sind mehr als achttausend Seeleute ums Leben gekommen.
Viele von ihnen wurden an der schwedischen Westküste an Land getrieben. Und nicht nur tote Seeleute, sondern auch Wrackteile und Munition. Alle wurden registriert und so gut es ging aufbewahrt. Die Soldaten wurden auf kleinen Friedhöfen bestattet. Man versuchte, möglichst viele zu identifizieren. Angeblich wurden in diesem Sommer in den Küstendörfern keine Makrelen gegessen. Aber es war sicher immer schon so, dass die Menschen an Küsten und Grenzen die Kriege anders erleben.«
Was Niklas erzählte, ließ es ihr nicht wärmer werden. Seit sie über diese Schlacht gesprochen hatten, war sie schon mehrmals von fiktiven Szenen heimgesucht worden.
»Das Seltsame ist, dass sich keine Seite als Sieger betrachten konnte. Die Briten verloren zwar mehr Schiffe und sehr viel mehr Männer. Aber sie waren nicht besiegt. Und es gelang ihnen schneller, ihre Flotte zu reparieren. Deshalb versuchten die Deutschen während des Krieges nicht, eine weitere solche Schlacht zu provozieren. Sie konzentrierten sich auf den U-Bootkrieg, was die schwedische Seefahrt beeinflusste. Die Schlacht am Skagerrak führte zu einem Meinungsumschwung hierzulande. Es gab Stimmen, die meinten, wir sollten in den Krieg eintreten.«
Achttausend Mann. Und das bedeutete, dass achttausend Mütter und viele Väter einen Sohn verloren hatten. Sicher mehrere tausend Ehefrauen oder Freundinnen. Ihr Geliebter, begraben in einem fremden Land. Falls er nicht in den Wellen verschwunden war.
Verschwommen sah sie den Friedhof vor sich. Den hatte sie immerhin. Einen Ort, zu dem sie gehen konnte, wo sie ein wenig von ihrer Trauer hinterlassen konnte, mit jeder Blume, die sie dort hinlegte. Einen Ort, wo ihre Seele sich mit Mårtens treffen konnte.
Sie bemerkte, dass Niklas einen dunklen Mantel aus edlem Stoff trug. Das gab ihr zu verstehen, dass es sich um ein elegantes
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