Der geheime Brief
bestätigte, was Sara Moréus ihr über das Testament erzählt hatte. Er konnte sich gut daran erinnern, obwohl es an die fünfzehn Jahre zurücklag. Inga fragte, was er von der ganzen Geschichte halte. Ein Anwalt werde nicht immer dafür bezahlt, sich eine Meinung zu bilden, lautete die Anwort. Manchmal werde er dafür bezahlt, keine zu haben.
»Aber wenn Sie die Privatperson Gösta Levander fragen, kann ich mir durchaus vorstellen, dass sich hinter der ganzen Angelegenheit ein kleiner Skandal versteckt. Ein Hausmädchen wird schwanger und brennt mit dem Sohn der Herrschaft durch … und der Vater des verlorenen Sohnes will für sein Enkelkind sorgen. Warum hat er das getan? Weil er ein herzensguter Mann war? Vielleicht. Aber dann fragen wir uns doch, warum der Sohn und das Hausmädchen kein Geld bekommen haben.«
Alte Ölgemälde in Goldrahmen hingen an den Wänden. Juristengenerationen erwiderten ihren Blick, allesamt Männer.
»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was passiert sein könnte?«
»Ich kann nur spekulieren. Carl Otto war ein ziemlich berüchtigter Frauenheld. Dazu ein tüchtiger Geschäftsmann. Für seinen Sohn Ruben galt in beiden Fällen genau das Gegenteil.«
»Sie meinen …«
»Dass man durchaus ins Nachdenken kommt, wenn man den Gerüchten glauben will. Ich habe keine direkten Informationen, sondern nur Dinge, die ich aufgeschnappt habe, wenn ältere Kollegen über die Affären der Familie Otto diskutierten. Wir arbeiten schon sehr lange für diese Familie, müssen Sie wissen.«
Sie fasste das als höflichen Hinweis darauf auf, dass das Gespräch beendet sei, und machte sich zum Gehen bereit, als Gösta Levander sich über den Schreibtisch vorbeugte.
»Sie sind Fotografin, nicht wahr?«
»Ja. Ich habe mit Fotografie gearbeitet.« Es gab keinen Grund, hier ihr Herz auszuschütten.
»Ich interessiere mich selbst sehr für Kunst. Zur Kunst zähle ich auch die Fotografie. Die guten Fotografen sind in unseren Kulturinstitutionen schändlich unterrepräsentiert, und der Fotografie wird als Kunstform nicht der nötige Respekt entgegengebracht. Noch immer kann man fantastische Objekte zu verhältnismäßig billigen Preisen erwerben. Sie gehören zu meinen Lieblingen.«
»Danke. Das höre ich gern.«
»Wir haben zu Hause zwei Ihrer Bilder. Beide stellen Industriekomplexe dar, und wie Sie mit Licht und Dunkelheit balancieren, ist beeindruckend. Mir gefällt das außerordentlich gut.«
»Mein Mann Mårten hatte diese Gebäude entworfen.«
»Tatsache ist, dass ich mich wegen Ihrer Fotografien dazu
entschlossen hatte, mich mit Ihnen zu treffen. Was wir hier besprechen, steht natürlich unter Schweigepflicht. Ich habe kein Recht, mit Außenstehenden über die Angelegenheiten anderer Familien zu reden. Aber Carl Otto und Ruben Otto sind beide tot. Wie Ruben Ottos Brüder, übrigens, weshalb niemand direkten Schaden leiden kann. Ich habe darüber auch mit Sara Moréus gesprochen, die es für völlig in Ordnung hält, wenn ich offen spreche.«
»Ich hatte ihr gesagt, dass ich herkommen wollte.«
»Das wusste sie, ja. Sie hat mir auch gesagt, warum. So, wie sie das verstanden hatte.«
Gösta Levander beugte sich noch ein wenig weiter vor. Er faltete die Hände und sie wusste, dass das, was sie jetzt hören würde, ihren Bildern und Sara Moréus’ Worten zu verdanken war.
»Wie gesagt, es gab gewisse Gerüchte. Diese Gerüchte ließen durchscheinen, dass Carl Otto und sein Sohn Ruben beide in Linnea Moréus verliebt waren. Sie muss eine ganz besondere Frau gewesen sein. Aber egal, jedenfalls trug der Sohn Ruben den Sieg davon, und das ist wohl die inoffizielle Erklärung hier im Haus dafür, dass Carl Otto Sohn und Schwiegertochter enterbt und für seinen Enkel gesorgt hat.«
Nach einer Pause senkte Gösta Levander die Stimme.
»Und jetzt überschreite ich meine Befugnisse definitiv. Aber alter Klatsch wollte auch wissen, dass Ruben Otto sich überhaupt nicht für Frauen interessierte. Ehe er mit Linnea Moréus durchbrannte, hatte er sich nie um eine Frau bemüht und wurde nur mit männlichen Bekannten gesehen. Vor allem mit einem. Aber dieser Mann verschwand auf Marstrand.«
»Auf Marstrand?«
»Die Familie Otto verbrachte dort die Sommer. Ruben Ottos Freund war dort, und dann verschwand er. Es wurden Nachforschungen angestellt, aber ohne Ergebnis. Die Zeitungen haben
damals darüber berichtet. Dieser Mann war den Behörden schon vorher bekannt. Er hatte angeblich im Gesicht ein
Weitere Kostenlose Bücher