Der geheime Brief
ihm beim Joggen davonlief. Und sie selbst hatte sicher auch dazu beigetragen, dass ihr Sohn eine gewisse innere Sicherheit hatte. Es gab Scherben des Glücks, auch wenn es manchmal schwer war, sie zu finden, und noch schwerer, sie zusammenzukleben.
Onkel Ivar stand auf dem Hofplatz, als sie ankam. Das große Haus sah ziemlich gut erhalten aus, genau wie sein Besitzer, der sie mit einer Schürze vor dem Bauch und einem Topflappen in der Hand empfing. Er umarmte sie und küsste sie auf die Wange, und sie betrachtete ihn und war wieder von der Stärke und der Ausstrahlung ihres Onkels fasziniert. Nie würde sie vergessen, wie er Wespen tötete, indem er sie zwischen seinen Fingern zerquetschte. Er wirkte unverletzlich. Noch immer hielt er sich gerade. Seine Augen, die zwischen blau und braun changierten, hatten nichts von ihrer Fähigkeit verloren, durch alles hindurchzuschauen. Jetzt hielt er sie auf Armeslänge von sich weg und meinte, es sei ein Glück, dass er für eine Mahlzeit gesorgt hatte. Sie müsse zunehmen.
Ein kurzer Rundgang durch das Haus zeigte, dass nichts sich verändert hatte. An der Wand im Wohnzimmer hingen Banjo und Akkordeon, und in der Küche verbreitete der Ofen eine behagliche Wärme. Die gesamte Anrichte war bedeckt mit Broten, mit Eiern und Schinken, warmen Würstchen, einem Omelett und dem Käsekuchen. Sie würde essen müssen, bis ihr Magen schmerzte. Mit weniger würde er sich nicht zufrieden geben.
Ivar schenkte Tee ein und berührte die zerbrechlichen Tassen
mit größter Vorsicht. Sie dachte an die praktischen und modernen Becher bei Sara Moréus. Er servierte das Essen in Riesenportionen. Zwischen den Bissen versuchte sie, die Ereignisse der letzten Zeit zusammenzufassen. Sie hatte ihren Onkel zuletzt vor einem halben Jahr gesprochen. Er interessierte sich dafür, was sie machte. Ihre Familie war großzügig und wohlwollend, daran bestand kein Zweifel. Und stolz war sie außerdem.
»Und du selbst?«
Onkel Ivar putzte sich die Nase und erklärte, er habe keinen Grund zur Klage. Er sei gesund, habe seinen Herrn, freundliche Nachbarn und gute Freunde. Was könne ein Mensch, der seit fast einem Jahrhundert lebte, mehr verlangen? Die Söhne machten sich gut und kamen oft zu Besuch, und an Enkelkindern bestand kein Mangel, es waren gesunde und aufgeweckte Kinder. Erst vorige Woche hatte er zwei zu Besuch gehabt, Mädchen, die sich die alten Alben angesehen und sein Gekritzel bewundert hatten. Jede hatte ein Tuch der Großmutter bekommen, denn er hatte noch allerlei Kleider oben auf dem Dachboden. Er legte seine Hand auf ihre.
»Es wird besser mit den Jahren«, sagte er. »Nicht, dass die Sehnsucht verschwindet, denn das tut sie nie. Aber sie wird anders. Man findet sich damit ab.«
Sie sah, dass die Adern auf Onkel Ivars Handrücken ein Eigenleben führten, bemerkte die Altersflecken und die kräftigen Nägel. Die Lederhaut an den Fingerspitzen. Onkel Ivar erkundigte sich nach Mama Louise in den USA, und sie antwortete, dass es Louise offenbar gut ging.
»Wie sieht es übrigens im Sommerhaus aus?«
»Gut. Ein wenig heruntergekommen. Es muss gestrichen werden. Aber ich habe im Schuppen ausgemistet.«
Sie schilderte ihre Aufräumaktion, und Onkel Ivar nickte zufrieden. Geld sei kein Problem. Sie solle ins Sommerhaus
investieren, so viel sie wollte, er werde seinen Anteil bezahlen. Sie könne auch mit seinen Söhnen sprechen, aber bis auf Weiteres gehöre das Haus ja ihm und ihr. Und ein gepflegtes Haus auf Marstrand sei immer eine gute Investition.
Sie nahm noch ein Stück Käsekuchen mit Schlagsahne und Himbeermarmelade. Wie war das mit der Geschichte des Hauses? Diese Frage würde sie näher zu den Themen bringen, die ihr auf den Nägeln brannten. Ihr war aufgegangen, dass sie eigentlich gar nicht so recht wusste, was ihre Großeltern nach Marstrand verschlagen hatte. Onkel Ivar wischte sich sorgfältig mit einer fleckigen Leinenserviette den Mund ab.
»Dein Großvater Jakob hatte Verwandte, die in dem Haus wohnten. Sie waren Fischer. Jakob hatte als junger Mann in Göteborg gearbeitet und sicher im Sommer diese Verwandten besucht. Als sie verkaufen wollten, erwarb er das Haus. Deine Großeltern haben in den ersten Jahren ihrer Ehe dort gewohnt. Später kamen sie in den Ferien hin.«
Ihr Großvater hatte in Göteborg gearbeitet. Das war das Stichwort, und nun erzählte sie. Dass sie aus Verzweiflung über sich selbst nach Marstrand gefahren war und dann im Schuppen den Brief
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