Der geheime Brief
habe? Er sehe doch, wie sehr sie ihren kleinen Sohn liebe.
Papa beschwerte sich über alle Männer, die seine Frau mit lüsternen Blicken bedachten, und dass er es niemals schaffen würde, sie alle zu vertreiben. Das sei, wie auf einen Bienenschwarm einzuschlagen. Mama antwortete, er solle stolz darauf sein, eine attraktive Frau zu haben. Er solle mit der Liebe vorlieb nehmen, die sie geben könnte, denn sie habe keine andere. Ein Pastor dürfe keine so hohen Ansprüche stellen, schon gar nicht an seine Ehefrau.
Da wollte Papa wissen, wenn in diesem Moment Mamas erste Liebe durch die Tür träte, für wen sie sich dann wohl entscheiden
würde? Sie habe ja schon einmal gewählt, mit mir als Ergebnis.
Und da spürte ich eine kleine Hand an meinem Bein. Ich schaute nach unten und sah Johannes, der sich an mich klammerte. Also schlich ich mich mit ihm weg, und wir gingen wieder nach draußen zum Spielen. Ich dachte, er habe nicht verstanden, was passiert war, und das sei gut so. Damit muss ich alleine fertigwerden, dachte ich.«
Das alles zu erzählen hatte Onkel Ivar erschöpft. Ein Augenlid zuckte unkontrolliert, sein Gesicht wirkte grau.
»Du brauchst nicht … ich meine, wenn das eine Qual für dich ist …«
»Es muss heraus, Inga. Das weiß ich jetzt. Du warst so geduldig in der ganzen Zeit, als dein Vater krank war. Du musst es wissen. Er hat es nie vergessen.«
»Aber er kann das doch unmöglich begriffen haben. Er war erst vier!«
»Das dachte ich auch. Und ich hatte mich sofort entschlossen. Wenn sie es nicht zur Sprache brächten, würde ich es auch nicht zur Sprache bringen. Dann würde es verschwinden. Jakob wäre mein Vater, und mein Brüderchen würde in nichts hineingezogen werden. Es war nur so, dass Johannes anfing zu reden. Nach mehreren Wochen des Schweigens. Ich war der Einzige, der wusste, warum. Mama und Papa meinten, es komme von einem bösen Sturz. Ich ließ sie in dem Glauben.
Alles war fast wie früher, und ich verdrängte, was wir gehört hatten. Manchmal musterte ich Papa heimlich im Versuch, die Unterschiede zwischen uns zu sehen, aber schließlich beschloss ich, darauf zu pfeifen. Das klingt seltsam. Heute würde ein Junge in ählicher Lage vermutlich eine Szene machen und verlangen, alles über seinen Erzeuger zu erfahren. Damals gab es noch Respekt vor den Eltern. Man stellte keine Fragen, von
denen man wusste, dass man sie nicht stellen sollte. Vielleicht wusste ich auch, dass der unterdrückte Konflikt meiner Eltern ans Tageslicht käme, wenn ich Antworten verlangte, Dann würde ihre Ehe zerbrechen, und das wäre mein Fehler.«
Was er sagte, war eigentlich keine Überraschung. Sie hatten nie Ähnlichkeit miteinander gehabt, ihr Vater und sein großer Bruder. Während Ivar charismatisch und großzügig war, hatte ihr Vater immer das kleine Format vorgezogen. Neben Ivar sah er aus wie ein Knabe. Ein Knabe mit verschreckten Augen, dessen Gefühle dicht unter der Haut lagen. Aber sie hatten einander gern gehabt.
Onkel Ivar schien ihre Gedanken zu erraten.
»Ich hätte eigentlich nie geglaubt, dass dein Papa verstand, was da in der Küche gesagt wurde. Trotz seines Schweigens. Aber dann kam dieser Sommer. Es regnete so trostlos. Wir waren alle auf Marstrand, im Haus war es langweilig und unerträglich. Nach dem Tod deines Großvaters gingen wir seine Papiere und Hinterlassenschaften durch. Eines Nachts wütete ein entsetzlicher Sturm. Ich wurde wach und ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Da stand Johannes und weinte. Ich fragte, was denn los sei. Er antwortete, er trauere um seinen Papa, und für ihn sei das anders. Denn Jakob sei sein Papa gewesen und nicht meiner.«
Das Blut wich aus ihrem Gesicht und suchte sich den Weg in Beine und Füße, die in den geliehenen Stiefeln heiß zu pulsieren anfingen. Der Gedanke an ihren verzweifelten Vater.
»Wir setzten uns an den Tisch und fingen an zu reden. Dabei kam heraus, dass dein Papa wusste, dass wir verschiedene Väter hatten. Dieses Wissen musste sich in seinem Kinderkopf festgesetzt haben. Jetzt, in seinem Kummer über den Tod seines Vaters, nahm alles groteske Ausmaße an. Er hatte sich nämlich seltsame Vorstellungen gemacht. Dass Mama mich mehr liebte
als ihn. Dass er immer in meinem Schatten gestanden hätte. Niemals gut genug gewesen wäre. Unglaublich, nicht? Ich begriff das erst, als er krank wurde. Das waren für mich die ersten Symptome. Aber es war dauerte noch viele Jahre, ehe es ihm wirklich
Weitere Kostenlose Bücher