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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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fiel und nicht an den Vater. Ich bin Leas Sohn nie begegnet. Er war Geschäftsmann und arbeitete im Ausland. Dass er aussah wie ich, ist aber kein Wunder. Mama und Lea sahen sich sehr ähnlich.«
    Sie hatte das deutliche Gefühl, dass Onkel Ivar dem eigentlichen Thema auswich. Als ob er das Unausweichliche einkreiste. Er ging mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten, musste aber ab und zu stehenbleiben, um Atem zu holen. Die Luft war kalt und duftete nach Erde, vermischt mit einer Ahnung von Winter. Überall hatten die Tannenzapfen ihre Geheimnisse in sich eingeschlossen.
    »Hast du eine Erklärung dafür, dass dieser Anton Dahlström oder Rosell auf Marstrand verschwunden ist? Der Mann mit der Narbe. Es kann doch kein Zufall sein, dass auch Opa …«
    »Dass ein Mann verschwunden ist, mit oder ohne Narbe, das weiß ich. Mein Vater.«
    In der folgenden Stille hörte sie ein Sausen zwischen den nackten Zweigen, als surre eine überlebende Fliege mit gefrorenen Flügeln zwischen den Bäumen umher.
    »Seit du angerufen hast, habe ich überlegt, wie ich dir am besten helfen kann. Ich will dich nicht noch mehr belasten. Aber vielleicht würdest du es ja doch erfahren, und dann lieber von mir als von jemand anderem. Ich verstehe, dass du dir Klarheit verschaffen musst. Und dann kann das hier eine Hilfe sein.«
    Onkel Ivar schritt weit aus und sie musste laufen, um mit ihm Schritt zu halten.

    »Nichts von allem war deine Schuld. Ich meine die Krankheit deines Vaters oder die Scheidung. Aber du hast immer dazu geneigt, die Fehler der anderen auf dich zu nehmen. So warst du schon als Kind. Ich weiß noch, einmal solltest du eine Woche bei mir verbringen. Ich wollte dich abholen, deine Eltern wollten für einige Tage verreisen. Du warst vielleicht neun. Du hast deine Mama umarmt und gefragt: ›Wie soll das gehen?‹ Und Louise strich dir über die Haare und sagte, bei mir würdest du es doch so gut haben. Da hast du sie überrascht angesehen und gesagt: ›Ich hatte eigentlich an euch gedacht.‹
    Du warst immer so ehrgeizig bei deiner Arbeit, dass ich manchmal gedacht habe, du versuchtest, eine vermeintliche Schuld zurückzuzahlen. Ich war so froh, als du Mårten kennenlerntest. Er war so ein feiner Mann. Gut für dich. Jetzt denke ich, dass vieles wieder an die Oberfläche treibt.«
    Sie schaute zu Boden, um nicht antworten zu müssen, und Onkel Ivar redete weiter.
    »Was ich eben gesagt habe, bedeutet, wie du sicher schon verstanden hast, dass Johannes und ich nicht denselben Vater hatten. Dein Opa Jakob ist der Vater deines Vaters. Aber wer mein Vater war, weiß ich nicht. Ich bin ihm nie begegnet. Mama hat mir nie gesagt, wo er lebte. Sie hat gar nichts erzählt. Wir haben es durch ein Versehen erfahren, Johannes und ich.«
    »Wie meinst du das?«
    Sie blieb stehen, und Onkel Ivar trat vor sie auf den Weg. Seine Arme hingen ein wenig hilflos herab, die Arme, die sie früher hoch in die Luft geschwenkt hatten, wieder und wieder, bis sie vor Lachen schluchzte und sich fast die Hose nassmachte.
    »Ich bin diesen Nachmittag in Gedanken so oft durchgegangen«, sagte er. »Hätte ich Johannes doch nicht so hart gedrängt. Er war doch so klein, viel jünger als ich. Erst vier. Und ich war sechzehn und wollte ihm Fußballspielen beibringen. Ich hatte
versprochen, den ganzen Nachmittag auf ihn aufzupassen, aber kaum waren wir draußen, habe ich ihn zu sehr angetrieben. Johannes stolperte und stürzte. Er blutete, verhielt sich aber tapfer, wie immer, wenn er bei mir war. Er schluchzte nur ganz wenig. Wir gingen ins Haus, und ich wollte gerade Pflaster holen, als wir Stimmen hörten. Papa und Mama schrien sich in der Küche an. Plötzlich stand ich hinter der Küchentür und horchte. Dass Johannes sich hinter mich geschlichen hatte, bemerkte ich zuerst nicht, aber ich hätte es mir ja denken können. Da er mir, seinem großen Bruder, überallhin folgte.«
    Onkel Ivar strich sich über die Augen. Er trug keine Handschuhe, aber sie wusste, dass seine Hände trotzdem warm waren.
    »Sie sprachen über ihre Ehe. Papa … ja, ich habe Jakob immer Papa genannt … sagte, es spiele keine Rolle, was er mache, niemals werde er gut genug sein. Er sehe doch, wie sie ihren älteren Sohn verwöhne, denn der sei alles, was sie von ihrem früheren Liebsten noch habe. Mama schrie, es gehe hier nicht um Liebe. Sondern darum, dass Jakob es nicht geschafft habe, weiterzugehen. Warum er nicht glaube, dass sie die Vergangenheit schon längst abgehakt

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