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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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schlecht ging. Also weiß ich es nicht sicher.
    Aber etwas hatte sich zwischen uns verändert. Wir trafen uns nicht mehr so oft. Ich versuchte mehrere Male, alles wieder einzurenken. Aber offenbar waren wir zu weit gegangen. Er war zu einem anderen geworden. Später war er fast nicht mehr ansprechbar. Also musst du verstehen, dass nichts von dem, was passiert war, deine Schuld war.«
    Sie bat ihn höflich um Entschuldigung. Dann rannte sie in den Wald. Schluchzend versuchte sie, ihren Magen zu entleeren, musste aber einsehen, dass der diese guten Sachen nicht hergeben wollte. Sie würde den Schmerz ertragen müssen. Dass ihr Vater so über seinen großen Bruder gedacht hatte. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Spucke ab und fühlte sich plötzlich ebenso alt wie Onkel Ivar.
    Erschöpft lehnte sie sich an einem Baumstamm und dachte daran, was Niklas über den Stock und den Ameisenhügel gesagt hatte. Das hier würde ihr keinen Frieden und keine Versöhnung bringen, sondern nur neue Wahrheiten, die sie dann quälten. War sie Onkel Ivar dankbar, oder hätte er schweigen müssen? Sie wusste es nicht, nur, dass er das alles aus Güte gesagt hatte, in der Hoffnung, das für sie Schonendste zu tun.
    Als sie zurückkam, stand Onkel Ivar noch immer auf dem Weg, so, wie sie ihn verlassen hatte. Er streckte die Arme aus und sie ließ sich hineinfallen. Er fragte, ob sie traurig sei, denn das sei das Letzte, was er gewollt habe. Aber es sei doch besser, sie erfahre es von ihm als von anderen, jetzt, wo sie angefangen habe, in der Vergangenheit zu graben. Er habe keine Ahnung, wer sonst noch von der Sache wissen könne. Aber es schlichen
Geister um die Hausecken, und die Wände hätten Risse. Nicht, dass irgendwer etwas gesagt habe. Aber vielleicht doch geahnt.
    Sie antwortete mit dünner Stimme, sie sei sicher, dass er sie niemals habe verletzen wollen. Und dass sie vielleicht irgendwann mit Louise über alles sprechen müsste. Und dann gab es diese eine Nacht, in der etwas passiert war. Haben wir uns über Gott erhoben und geglaubt, es stehe uns frei, über Lebende und Tote zu urteilen? So hieß es in Leas Brief.
    »Dein biologischer Vater ist verschwunden, Onkel Ivar. Wer immer er auch war. Kann das etwas mit dem zu tun haben, worüber Lea schreibt?«
    Onkel Ivar schaute zu den Wolken hoch. Sie folgte seinem Blick und sah einige schwarze Vögel über ihnen kreisen. Sie sah die Furchen in seinem Gesicht, seine Wangen wirkten eingefallener. Der Wald flüsterte hinter ihrem Rücken. Onkel Ivar erschien ihr wie ein Denkmal für die menschliche Überlebensfähigkeit. Er antwortete mit brüchiger Stimme.
    »Ich glaube nicht, dass du mich danach fragen solltest. Sondern deinen Papa.«

     
     
     
    »Mit unserem verdammten Kahn stimmt heute offenbar etwas nicht, Chatfield.«
     
    David Beatty, Admiral der Royal Navy, zu seinem Flaggenkapitän.

Kapitel 12
1959
    Ich schaute meine Pantoffeln an, und es war wohl kein Zufall, dass sie genau in dem Augenblick kam, als meine Gedanken in meine Schuhe geglitten waren. Dann stand sie da, wie früher auf hohen Absätzen. Dann nahm sie ein ähnliches Paar Schuhe aus einer Tüte, zog sie mir an, nahm meinen Arm und führte mich aus dem Haus.
    Die Luft war angenehm, es duftete nach Flieder. Sie erzählte von vergangenen Strapazen, während wir identische Schuhspitzen und Absätze auf den Boden setzten. Meine waren dank ausgezeichneter Handarbeit sofort bequem. Ich will die Schuhe im Bett in der Hand halten, wenn es dem Ende entgegengeht, wie ein Kind, das ein geliebtes Kleidungsstück festhält. Sie küsste mich, sagte, sie werde eine Weile zu Hause bleiben und natürlich wiederkommen. Auf dem Nachttisch hinterließ sie Himbeeren, »so süß wie du«.
    So ist sie jetzt, und so war sie damals, die Schwester, die mir geschenkt wurde und die ich liebe, obwohl alles aus dem Ruder lief. An dem Tag, an dem ich verschwinde, werde ich meinen Geist in ihre Hände legen.
    Jetzt sitze ich allein auf der Bank. Sie haben sich mit meinem Blut herumgeschlagen. Ich weiß, dass es sinnlos ist, will aber nicht undankbar erscheinen. Sie tun es auch um ihrer selbst willen, denn wenn mein Leben gerettet wird, kann auch ihres
gerettet werden, und dann ist der Abgrund nicht mehr ganz so tief. Als ob Illusionen jemals irgendeinen Menschen gerettet hätten. Es sind die guten Ideen, die uns das Überleben ermöglichen. Und die Disziplin, die den Träumen Substanz gibt. Mut ist nicht so wichtig, man kann handeln und sich

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