Der geheime Brief
trotzdem fürchten, wenn es nur niemand merkt und man sich nicht aufhalten lässt. Die Angst nagt von innen, zerfrisst uns aber nicht.
Das alles hatte seinen Anfang an jenem Abend genommen, als Lea die Muscheln mit der Schale aß und Anton mich vor einem Überfall rettete. Dass danach Jakob auf der Anhöhe auftauchte, war ein Zufall. Es dauerte, Jakob zu erzählen, wer Anton war, und Anton, woher ich Jakob kannte, weil ich eigentlich keinen von beiden kannte. Wir hatten uns während einiger kurzen Stunden und Tage getroffen. Während Anton länger in meiner Erinnerung geblieben war, als er es verdient hatte, so hatte ich für Jakob nur gehofft, dass er die Schreibmaschine für seine Schwester zusammenbringen würde. Am Ende reichten die beiden einander die Hand. Zusammen gingen wir hoch zu Leas und meiner Kammer, vielleicht, weil ich keine Kraft hatte, um mich der Einsamkeit zu stellen, vielleicht aus anderen Gründen.
Dort oben saßen Ruben und Lea am Tisch wie ein altes Paar, sie beugten sich über Zeitungsausschnitte, die sie im trüben Licht der Petroleumlampe lasen. Ich stellte Jakob vor, während Lea Kaffee und Zwieback auftischte, und dann öffnete ich das Paket, das Signe mir zugesteckt hatte. Darin lagen Entenfilets und Pasteten. Ich schob alles Jakob zu. Er nickte und griff wortlos zu, wenn auch nicht so verzweifelt wie im Zug. Dann beantwortete er meine Frage nach der Schreibmaschine. Doch. Er hatte sie besorgt, bezahlt und abgeliefert.
Die anderen schauten verwundert, und Jakob erzählte von seiner gelähmten Schwester und ihren Zielen. Anton fand das großartig von ihm. Seine Augen ruhten abwechselnd auf Jakobs
zerfetzter Jacke und auf mir, als versuche er, meine Gedanken zu erraten.
Ich suchte Rettung bei Jakob, der bereitwillig und im Glauben an die gute Gesellschaft erzählte, wie er die nötigen Mittel besorgt hatte. Er hatte sich an einer Schmuggelaktion im Hafen beteiligt und seinen Anteil erhalten. Es war um grobes Leder und Zucker gegangen. Das alles berichtete er ohne einen Gedanken daran, dass wir Fremde waren und damit eine potentielle Gefahr. Das zeigte mir wieder seinen lauteren Charakter, von dem ich auf unserer Bahnfahrt schon einen Eindruck bekommen hatte.
Laut Jakob florierte der Schwarzmarkt wie nie zuvor. Große Lasten lagen herrenlos im Hafen, beschädigte Schiffe trieben an Land mit Waren, über die niemand etwas wusste. Es gab genug Hehler, die bezahlten, ohne Fragen zu stellen. Wenn sie etwas bekamen, das sie weiterverkaufen konnten, am besten nach Deutschland, geizten sie nicht mit dem Lohn. Sie konnten trotzdem genug verdienen, und das Schweigen hatte doch auch seinen Wert. Lea nickte und stimmte zu. Später sollte sie erfahren, dass sie auch mit Schuhen handelten und dass es nicht selten hieß, zwischen Verdienst und Moral zu entscheiden.
Ruben lachte, als Jakob zum Schweigen gemahnte, und erklärte, er würde so ungefähr alles geben, um das energische Mundwerk seiner Mutter anzuhalten. Wieder nüchtern, erklärte er, seine Mutter sei eine Plage, und er wisse nicht, wie lange er es noch unter demselben Dach wie sie aushalten könne. Anton fand auch, dass Amanda Otto alles andere als eine sonderlich gütige Person wirke, aber könne man nicht auf sie einwirken? Ruben schüttelte den Kopf und sagte, er werde sein Elternhaus und vielleicht auch das Land so bald wie möglich verlassen. Es gebe so viel Elend auf der Welt, dass er seine Zeit nicht mit belangloser Bosheit und Kleinlichkeit vergeuden könne.
Als sie gingen, wurde es schon hell. Jakob fragte, ob er sich wieder melden dürfe. Er wohnte nicht sehr weit von uns entfernt. Vielleicht könnten wir an einem Samstagabend tanzen gehen? Dass Ruben und Lea sich wiedersehen würden, war klar, aber als Anton erklärte, er werde vorbeikommen und die Silberleuchter abliefern, fiel mir die Antwort schwer. Lea erkannte das sofort. Als die Männer gegangen waren und wir erschöpft ins Bett fielen, verlangte sie eine Erklärung.
Unter der Decke verkrochen erzählte ich von Anton, der auf unseren Hof gekommen war und in mir Gefühle geweckt hatte, die eine Dreizehnjährige nicht haben dürfte. Lea müsse entschuldigen, aber jetzt lasse die Erinnerung mir keine Ruhe, und deshalb sei ich so verstört gewesen. Das habe sie sicher gesehen.
Lea schüttelte den Kopf. Das merkte ich, trotz der Dunkelheit.
»Solche Gefühle! Ich hätte von dir ja doch mehr erwartet, Rakel. Das ist doch bloß ein Mann. Die halbe Welt besteht aus
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