Der geheime Brief
Männern, und einer ist wie der andere. Halten das Gleichgewicht mit dem Schwanz, genau wie andere Tiere.«
»Auch Ruben Otto? Von dem du doch so hingerissen zu sein scheinst? Da lassen sich doch sicher weder Schwanz noch andere Dinge austauschen.«
Lea zog die Decke ans Kinn.
»Ich habe dir schon gesagt, dass es mir um seine Worte und seine Gedanken geht. Glaub mir, Rakel. Ich habe mehr als du gesehen, und das hier verstehe ich besser. Wenn du dich für einen entscheiden musst, dann nimm Jakob. Der hat ein gutes Herz und ist ehrlich. Viel mehr kann man nicht verlangen, wenn man unbedingt einen Lebensgefährten haben will.«
»Anton hat sich heute Abend immerhin für mich geschlagen. «
»Das heißt gar nichts.«
Ich stellte mich schlafend. Der Gedanke an Anton brannte in mir, und Lea hatte recht. Jakob war ein ein redlicher Mann und die bessere Wahl, aber ich konnte auf diese Wahl auch verzichten. Dann schlief ich ein, um alsbald hochzufahren. Ich machte mich an mein gewohntes Tagwerk, während Lea aufstand, sich den Schlaf aus den Augen rieb und zu ihrer neuen Arbeit in der Schuhfabrik ging.
Fabrikant Otto setzte sie zuerst in der Näh-Abteilung ein, dann musste sie Absätze anbringen, und endlich landete sie in der Buchführung. Lea brauchte nicht lange, um sich in die unterschiedlichen Phasen der Schuhherstellung einzuarbeiten. Am Küchentisch redete sie die ganze Zeit von Schaftschnitt, Schottischer Lochung und Pariser Schnitt. Vor allem ging ihr sehr schnell auf, auf welchen Goldreserven Carl Otto saß. Sie konnte sich ausführlich über unseren elenden Lohn und unseren ewigen Hunger auslassen. Angeblich sollten auch Schuhe rationiert werden, was bedeutete, dass alle Welt in den Laden rannte, um Schuhe zu bunkern. Ganz zu schweigen davon, dass eine Schuhreparatur jetzt so teuer war, dass die Armen Unterricht nahmen, um ihre eigenen Schuhe herstellen zu können. An Geld mangelte es der Familie Otto wirklich nicht, und es war ein Skandal, dass es niemals den Weg ins Untergeschoss und in die Küche fand.
Aber jetzt wusste sie, dass Carl Otto keine Ahnung davon hatte, wie schlecht es seinen Dienstboten wirklich ging. Sie würde ihn bald darüber aufklären. Für den Moment aber reichte es, dass sie mit ihren Rechenkünsten brillierte, so dass sogar der österreichische Betriebsleiter beeindruckt war. Er hörte offenbar gern zu, wenn sie über die Geschäfte sprach.
Lea konnte lange über den erschwerten Zugang zu Leder und dessen steigenden Verbrauch reden. Trotz Ersatzmaterialien stiegen die Preise, da die Soldaten ausgerüstet werden mussten.
Lea fauchte etwas darüber, dass nicht alle unter dem Krieg litten, wenn Schuhe mit Pappbeimischung und Holzsohlen für den dreifachen Preis verkauft wurden, ebenso wie die einfachsten Gummigaloschen. Denn auch Gummi war Kriegsmaterial. Ich stimmte zu, während ich meine Stiefel bewunderte, die dank Leas Hilfe neue Absätze erhalten hatten.
Die Stimmung im Hause Otto war elend ohne Lea, und als ich nun auch mit ins Armenhaus gehen musste, wurde alles noch schlimmer. Ruben wirkte wie ein Fremder in seinem eigenen Elternhaus. Wenn wir uns begegneten, schaute er in eine andere Richtung. Er wusste, dass ich wusste, dass er und Lea sich abends trafen und dass sie als Paar galten, wenn auch als heimliches. Rubens Abgang mit Lea an jenem schicksalhaften Abend war unwiderruflich, und das galt auch für seine Entschlossenheit, an der Verbindung festzuhalten, wenn auch ohne Wissen seiner Eltern. Die Konsequenzen ließen sich für den Moment nicht einmal erahnen.
Anton hielt Wort, er kam mit den Silberleuchtern und seinem Banjo und spielte. Ich hatte Mutter nicht nach dem Wahrheitsgehalt seiner Worte gefragt. Ich wollte und konnte sie nicht dazu bringen, etwas zu erzählen, das vielleicht nur ihr gehörte. Aber Antons Musik erweichte sogar Lea, und später erklärte sie, ein Mann, der einem Instrument solche Töne entlocken konnte, könne nicht durch und durch schlecht sein. Die Serenaden und Volkslieder ließen unsere Kammer behaglicher wirken. Da wandelten die Jungfrauen durch den Hain, man tanzte über den Anger oder hielt mit wackeren Rittern Hochzeit.
Anton wohnte in einem Junggesellenheim und suchte eine Stelle, während er sein Buch über die christliche Studentenverbindung schrieb. Am liebsten wäre er in der Stadt geblieben, aber an der Küste gab es wohl mehr Möglichkeiten. Ich
fragte ihn nicht, wovon er lebte, aber ich hatte den Eindruck, dass Ruben ihn
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