Der geheime Name: Roman (German Edition)
Schloss, die ihn nicht mehr verwirrte, die ihm ein Lächeln entlockte, wenn sie ihn in die Arme nahm und durch seine Haare streichelte.
Alle anderen irritierten ihn. Am Anfang war er zusammengezuckt, wenn er unvermittelt die Stimme von ihrem Vater hörte. Oma Klara war er lange Zeit ausgewichen, nachdem sie ein paar Mal versucht hatte, sich mit ihm zu unterhalten, und irgendwann hatte er Fina gestanden, dass es ihm schwerfiel, sich nicht vor dem Lehrer zu ducken, den ihre Eltern für ihn engagiert hatten. Es war ein freundlicher junger Mann – doch schon ein Funke von Autorität reichte aus, um Mora innerlich in einen Diener zu verwandeln.
Am schwersten fiel es ihm jedoch, mit dem Personal umzugehen, das im Schloss arbeitete. Er hatte lange gebraucht, um ihre Rolle als Haushälterin, Köchin und Lehrlingsmädchen zu verstehen, um zu begreifen, warum sie dienten, ohne sich zu ducken, warum sie sogar Fehler machen oder Kritik äußern durften, ohne bestraft zu werden. Am Anfang war er ihnen mit einer Mischung aus Mitleid und Scheu begegnet, es fiel ihm sichtbar schwer, sich bedienen zu lassen, ohne selbst vom Tisch aufzuspringen und zu helfen. Irgendwann war dem Mädchen eine Tasse zu Boden gefallen, und in Moras Gesicht war eine Panik erschienen, als befürchte er, dass sie für ihr Vergehen getötet würde. Er war zu ihr gesprungen, hatte ihr geholfen, die Scherben einzusammeln, und hatte mit einem so finsteren Blick zu Finas Vater aufgesehen, als wäre er bereit, ihn zu töten, falls er dem Mädchen etwas antun wollte.
An diesem Nachmittag hatte Fina vorgeschlagen, dass Mora doch in den gläsernen Pavillon am Rande des Sees umziehen könnte. Sie waren oft dorthin gegangen und hatten die Ruhe genossen, und ihr war klar, wie sehr Mora den Ort mochte.
Es war ein guter Entschluss gewesen. Seit drei Monaten lebte Mora jetzt hier, geschützt und verborgen im Schatten der Erlen. Er kam nur noch ins Schloss, um sich mit dem Lehrer zu treffen – und manchmal zu den Mahlzeiten. Aber seitdem er selbst wählen durfte, ob er in Gesellschaft von Menschen sein wollte, wurde er zunehmend sicherer. Er begrüßte die Leute mit einem Lächeln, wenn er ins Schloss kam. Das Zögerliche war aus seinen Bewegungen verschwunden, wenn er durch die Säle und Flure wanderte, und wenn er am Tisch saß, fing er sogar an, sich an den Gesprächen ihrer Familie zu beteiligen.
Fina erreichte den Pavillon. Obwohl sie schon wusste, dass Mora nicht darin war, spähte sie durch die Scheiben hinein. Sie mochte das runde Zimmer, das breite Bett unter den großen Fensterscheiben, das noch so zerwühlt war, wie sie es heute Morgen verlassen hatten. Gegenüber, mit Blick auf den See, stand ein alter Schreibtisch, und überall im Raum stapelten sich Bücher.
Ein Anflug von Stolz brachte Fina zum Lächeln. Nur wenige Wochen hatte Mora gebraucht, um Lesen zu lernen. Seitdem verschlang er ein Buch nach dem anderen. Sachbücher und Romane aus den verschiedensten Genres, scheinbar wahllos durcheinander. Abgesehen davon arbeitete er den größten Teil des Tages an den Hausaufgaben, die der Lehrer ihm gab. Am liebsten mochte er alles, was mit Mathematik und Naturwissenschaften zu tun hatte. Obwohl er erst seit einem halben Jahr unterrichtet wurde, fing er bereits an, Gleichungen zu lösen, und mit Physik, Chemie oder Biologie konnte er sich stundenlang beschäftigen.
Nur bei allem, was mit Menschen zu tun hatte, brauchte er ihre Hilfe. Wenn er Geschichtsbücher las, sprachen sie tagelang über Kriege, über Macht und darüber, wie Angst, Verlust und Lieblosigkeit jemanden in ein mordendes Monster verwandeln konnten.
Schließlich suchte Fina Historienromane, die zu den Themen passten, die ihn beschäftigten. Nächtelang lagen sie zusammen auf Moras Bett, lasen sich abwechselnd daraus vor und redeten darüber.
Sie bewunderte Mora dafür, wie er schließlich anfing, das Wesen der Menschen zu begreifen, wie er ihre Abgründe nach und nach durchschaute, bis er die Gefühle der Menschen fast besser erklären konnte als Fina.
Das Schleifgeräusch wurde lauter, als sie den Pavillon umrundete. Eine kurzgemähte Rasenfläche öffnete sich vor ihr, schmiegte sich zwischen Seeufer und Wald. Fina entdeckte Mora in der Mitte der kleinen Wiese. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und beugte sich über eine Holzskulptur, die hinter ihm kaum zu erkennen war. Feiner Holzstaub wirbelte durch die Luft, und die Muskeln an seinen Armen zuckten, während er mit schnellen
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