Der geheime Name: Roman (German Edition)
die er zusammengeknüllt in der anderen Hand hielt, und begegnete dem Blick seiner Augen, in denen jedes Gefühl abgetötet war. Das Bild zerplatzte, und schließlich fand sie einen jüngeren Mora in demselben U-Bahn-Tunnel, sah ihn als kleinen Jungen, wie er mit einem fremden Mann mitgehen musste, während ein Größerer den Lohn dafür kassierte.
Womöglich hätte er auch gar nicht so lange überlebt. Vielleicht hätten die Drogen bereits sein Kindergehirn zerstört, bis er nur noch jämmerlich vor sich hin vegetierte und schließlich in der Dunkelheit der Kanalisation zu einer unbeachteten Leiche wurde. Oder seine Mutter hätte ihn ausgesetzt, weil sie ihn nicht verkaufen konnte, und er wäre schon als Baby zwischen den Mülltonnen in einem Hinterhof verhungert.
Fina wollte die Bilder nicht länger sehen, wollte die Geschichte ihrer Mutter nicht länger hören. Vielleicht konnte sie verstehen, warum ihre Mutter so gehandelt hatte – aber verzeihen konnte sie ihr nicht.
Sie sprang auf, starrte Susanne noch einmal an und rannte schließlich zur Tür. Sie musste zurück zu Mora, musste ihn sehen, um zu wissen, dass es ihm gutging, dass er gesund werden würde … dass er eine Zukunft hatte.
Fina riss die Tür auf und stürmte in den Flur.
»Fina, warte!« Es war ihr Vater, sie konnte hören, wie er ihr nachlief.
Zögernd blieb sie stehen. Er konnte nichts dafür, er war genauso betrogen worden wie sie. Langsam drehte sie sich zu ihm um.
Er schloss die Wohnzimmertür hinter sich, so dass sie allein im Flur standen. Sein Gesicht wirkte im Halbdunkel noch bleicher. »Ich möchte, dass du eins weißt, Fina.« Er sprach leise und so tief, dass seine Stimme in dem schmalen Flur kaum zu hören war. »Ich werde dafür sorgen, dass der Junge eine Zukunft bekommt. Eine Identität und einen Pass.«
Ein heißer Schauer lief durch Finas Körper. Erst jetzt wurde ihr klar, dass solche Dinge ein ernsthaftes Problem waren. »Geht das so einfach?«
Ihr Vater atmete tief ein, Sorgenfalten gruben sich in seine Stirn. »Ich muss meine Machtbefugnisse missbrauchen und verwickle mich in eine schwere Straftat. Wenn das ans Licht kommt, nutzt mir meine Immunität als Diplomat rein gar nichts mehr. Die OSZE selbst wird dafür sorgen, dass Susanne und ich wegen schweren Menschenhandels ins Gefängnis kommen.«
Fina sah hastig nach unten. Für einen Moment wünschte sie sich, sie wäre noch mit Mora im Wald – und nicht in dieser Welt, in der über jeden Menschen genau Buch geführt wurde. »Können wir nicht einfach so tun, als hätte ich ihn irgendwo gefunden und gerettet? Es muss doch niemand erfahren, was Susanne damals getan hat.«
Die Schuhe ihres Vaters scharrten über den Boden, und schließlich wurde seine Stimme noch leiser: »Es gibt immer wieder diese Fälle von Menschenhandel, in denen die Herkunft des Opfers nicht geklärt werden kann. Entweder, weil es so stark traumatisiert ist, dass es darüber keine Auskunft geben kann, oder weil die Verschleppung schon so lange zurückliegt, dass es sich nicht mehr daran erinnert. Gerade solche Opfer benötigen Schutz und Wiedereingliederungshilfe. Das Land, in dem sie aufgegriffen werden, muss für sie sorgen.«
Fina schluckte. Plötzlich ahnte sie die Geschichte, die bald in irgendeiner Akte stehen würde: männliches Opfer von Folter und mutmaßlichem Menschenhandel, ungeklärte Herkunft, Hautfarbe Braun, geschätztes Alter zwischen siebzehn und zweiundzwanzig Jahren. Einzige Sprache Deutsch, daher mutmaßlich schon in früher Kindheit illegal in die Bundesrepublik Deutschland verschleppt. Aufgewachsen bei einem unbekannten Täter mit sadistischer Neigung, der sich als »Herr« bezeichnen ließ und das Opfer als Sklaven gehalten hat. Aufgegriffen von einer neunzehnjährigen Urlauberin in einem Wald in der Nähe von Walsrode.
Nein, nicht in Walsrode, in der Nähe von XY, wo der Wald noch viel größer war und es unmöglich wäre, der Wahrheit auf die Spur zu kommen …
Fina fröstelte. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. In einem heißen Strom liefen sie über ihre Wangen. »Was auch immer du tust …« Sie hob ihren Kopf, blickte in das verschwommene Gesicht ihres Vaters. »Er soll nicht in die Fänge der Behörden geraten, sie sollen ihn nicht mit stundenlangen Verhören quälen – und vor allem …« Sie stockte, der Gedanke, dass so etwas passieren könnte, trieb eine grausige Übelkeit durch ihren Magen: »… bitte lass nicht zu, dass sie Mora
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