Der geheime Name: Roman (German Edition)
Ohren. Das Pochen seiner Verletzungen klang allmählich ab, und schließlich blieb nur noch der warme Schmerz in seinem Inneren, der gleiche, den er schon gefühlt hatte, als er sie vom Waldrand aus beobachtet hatte.
Mora atmete den Geruch von Blumen in ihren Haaren ein. »Was ist passiert? Warum weinst du so?«
Fina drückte ihr Gesicht noch fester an seine Schulter. »Ich weiß jetzt, woher du kommst«, wimmerte sie. »Und ich bin so froh, dass du noch lebst, dass du so geworden bist, wie du bist. Dass du noch etwas fühlen kannst. Dein Leben hätte noch viel schrecklicher sein können.«
Mora verstand nicht, wovon sie sprach. Doch es war nicht wichtig. Alles, was zählte, war der warme Schmerz, der mit dem Blut durch seine Adern pulsierte. Sie waren zusammen, ganz nah. Er fühlte ihr Gewicht auf seinem Schoß, ihren Atem, der seinen Nacken streifte. Was auch immer in ihrer Welt mit ihnen passieren würde – jetzt gab es nur noch eine Sache, vor der er Angst hatte: »Bitte lass mich nicht mehr allein.«
Fina heulte auf. Sie nickte und löste sich von ihm. »Niemals«, hauchte sie. Ihre Lippen zitterten, ihre Tränen ließen das Braun ihrer Augen verschwimmen. »Jeden Tag und jede Nacht werde ich bei dir sein. Ich bewache deinen Schlaf und bin da, wenn du aufwachst.«
Mora wischte die Tränen von ihrem Gesicht, ließ seinen Finger auf ihren Lippen liegen, damit sie ruhig wurde. Und irgendwann in diesem Moment wurde er selbst ganz ruhig. Nur das warme Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus und erfüllte ihn. Er zog Fina wieder an sich, hielt sie fest und flüsterte ihr zu: »Ich werde auch immer da sein.«
Epilog
F ina duckte sich tief über die Mähne der weißen Stute. Der Wald flog an ihr vorbei, während sie den Weg entlangpreschte, der den See umrundete. Sie wollte keine Zeit verlieren, wollte endlich ankommen, nachdem sie fast den ganzen Tag darauf gewartet hatte.
Der gläserne Pavillon schimmerte vor ihr zwischen den Bäumen. Fina richtete sich auf, bremste den Galopp der Stute und sprang auf den Boden. Sie brachte Josefina auf die kleine Wiese, die Mora für sie umzäunt hatte, und ging das letzte Wegstück zu Fuß.
Der Pavillon spiegelte das Licht der Abendsonne. Die Oberfläche des Sees lag regungslos unter der Wärme des Sommertages da. Nur ein gleichmäßiges Schleifgeräusch durchbrach die Stille.
Auch wenn es Fina schwerfiel, sich so lange von Mora fernzuhalten – sie wusste, dass er die Ruhe brauchte, dass es diese Tage gab, an denen er sich völlig zurückziehen musste, um zu begreifen, was mit ihm geschehen war.
Mora beschwerte sich nie, aber Fina spürte, wie ihn die Gesellschaft von Menschen verwirrte, die Vielzahl von Beziehungen, in die er hineingeraten war. Im Laufe des letzten halben Jahres hatte sich beinahe ihre ganze Familie im Schloss versammelt: Oma Klara, weil sie irgendwo wohnen musste, solange die Mühle saniert wurde, ihr Vater, der sich endlich einmal freigenommen hatte, um die Zeit mit seiner verlorenen Tochter nachzuholen, und ihre Mutter, die ein neues Projekt plante: eine Art mobiles Klassenzimmer in Bukarest, in dem rumänische Straßenkinder und obdachlose Roma-Familien lesen, schreiben und rechnen lernen sollten. Es war ein ehrgeiziges Projekt, für das sie laufend neue Sponsoren und Mitarbeiter rekrutierte, mit ihnen Konzepte entwickelte und mögliche Probleme erörterte. Die meiste Zeit über saß sie in ihrem Büro, telefonierte und organisierte und arbeitete so besessen, als wäre sie noch immer auf der Flucht.
Nur in Moras Gegenwart wurde sie ruhig. Nur, wenn er sie ansah, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
Anfangs hatte Fina einen Anflug von Eifersucht verspürt, wenn sie Mora mit ihrer Mutter beobachtete. Aber seit Susanne ihr einen Stapel von Tagebüchern gegeben hatte, hatte sie angefangen, sich nach und nach auf ihre Perspektive einzulassen. Inzwischen kannte sie nicht nur den furchtbaren Anfang, sondern die ganze Geschichte – ihre neunzehnjährige Odyssee aus der Sicht ihrer Mutter. Und ganz gleich, wie viele Jahre verstrichen waren, die quälende Schuld, die Susanne auf sich geladen hatte, war in jedem ihrer Sätze spürbar. Fina hatte dennoch eine Weile gebraucht, um ihrer Mutter zu verzeihen.
Wahrscheinlich war es einzig Mora zu verdanken, dass sie wieder zusammenfanden – seiner stillen Art, mit der er die Liebe ihrer Mutter annahm. Obwohl er erfuhr, was sie ihm angetan hatte, machte er ihr keinen Vorwurf. Sie war die Einzige im
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