Der Geheime Orden
hervorragender Verfassung. Ich ließ die Hand über das dicke Papier gleiten, das an den Kanten einen dunklen Sepiaton angenommen hatte. Nie hätte ich gedacht, dass dieses Buch eine solche Wirkung auf mich ausüben würde, aber ich war wie geblendet von seiner unglaublichen, teils längst wieder vergessenen Geschichte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Harvard in den ersten Jahren seines Bestehens gewesen sein mochte, als ein Feuer auf dem Campus wütete und Harvard Hall mitsamt dem größten Teil seiner Bibliothek verzehrte. Ich empfand so etwas wie Demut, als ich daran dachte, wie viele andere Menschen vor mir bereits über diesem Buch gesessen hatten und von seinem geheimnisvollen Vermächtnis gefesselt worden waren – abertausend Hände, welche dieselben Seiten gestreichelt hatten, die ich in diesem Augenblick berührte.
Langsam schlug ich die erste Seite auf, las sie sorgfältig und begann mit der nächsten. Ich war überrascht, wie kräftig die Druckerschwärze nach so vielen Jahrhunderten noch war, und wenngleich die Wörter aufgrund der seltsamen Lettern da und dort schwer zu erkennen waren, so war ich doch endlich in der Lage, Reverend John Downames puritanisches Meisterwerk lesen zu können. Ich verbrachte die nächste Stunde damit, in der beruhigenden Stille des Lesesaals zu sitzen, die alten Seiten umzublättern und die feurige Rede eines augenscheinlich beseelten und überzeugten Predigers in mich aufzusaugen. »Wagen Sie zu abstrahieren«, hatte Davenport in seinem Büro zu mir gesagt. Also lehnte ich mich im gepolsterten Stuhl zurück, schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, was an den Worten auf diesen Seiten so bedeutsam sein konnte, dass eine exklusive Bruderschaft reicher und mächtiger Männer ihr Glaubensbekenntnis daraus entnahm und ein exzentrischer Millionär eine andere Passage auf die Urne seines tragisch geendeten Sohnes gravieren ließ.
33
Plötzlich wurde ich vom Geräusch einer schweren Tür geweckt, die ins Schloss fiel. Ich schaute auf und bemerkte, dass im ganzen Lesesaal hektische Aktivität herrschte.
An jedem Tisch saßen mindestens eine Hand voll Leute, die sich über Bücher und Manuskripte beugten, die auf Styroporwiegen gebettet waren. Sie kritzelten eifrig in ihre Notizblöcke; einige tippten sogar in ihre Laptops. Forde saß nach wie vor hinter dem Informationsschalter, war mittlerweile aber von ein paar Frauen verstärkt worden, die Kunden behilflich waren oder sich gegenseitig etwas zuflüsterten. Ich schaute zur Uhr hinauf und rechnete mir aus, dass ich eine gute Stunde geschlafen hatte. Die Sonne knallte durch die offenen Jalousien, und das Geräusch stumpfer Bleistifte auf Papier überlagerte das leise Hintergrundgeräusch im Lesesaal. Der Christliche Feldzug ruhte immer noch in seiner Wiege vor mir. Ich stand auf und ging zu Forde.
»Wie läuft’s?«, fragte er, als hätte ich in der vergangenen Stunde wie ein Verrückter gearbeitet und nicht, wie uns beiden bewusst war, im Koma gelegen.
»Großartig«, sagte ich und spielte das Spiel mit. »Könnte ich das Buch noch ein bisschen länger behalten und parallel dazu ein anderes lesen?«
»Kein Problem. Sie dürfen drei Exemplare gleichzeitig benutzen. Wenn Sie mir den Titel nennen wollen … ?«
»Es ist dasselbe Buch, aber die Ausgabe von 1604.«
Er runzelte die Stirn. »Das ist die erste Auflage.«
Ich nickte.
»Normalerweise müssten Sie zum elektronischen Katalog gehen und die Signatur heraussuchen, aber ich habe dieses Buch schon so oft für Professor Davenport geholt, dass ich sie auswendig weiß.«
»Wann war Professor Davenport zuletzt hier?«, fragte ich.
»Irgendwann in der letzten Woche«, sagte er.
Forde trug die Signatur in einen Leihschein ein und verschwand durch die Tür hinter dem Schalter. Eine der Bibliothekarinnen hatte gerade einen anderen Kunden zu Ende bedient. Ich schaute auf das Namensschild, das an einer Schnur um ihren Hals hing: Stephanie Dupont. »Wo genau werden all diese seltenen Bücher und Manuskripte eigentlich aufbewahrt?«, fragte ich.
»Im Untergeschoss«, antwortete sie. »Einige stehen im Magazin, aber die wertvolleren Stücke werden im Tresorraum aufbewahrt.«
»Und niemand bewacht sie?«
»Natürlich werden sie bewacht. Wir haben zwei bewaffnete Sicherheitsbeamte und ein Alarmsystem, für dessen Bedienung man beinahe promoviert sein muss.«
Wenn sie diese Vorkehrungen nur schon gehabt hätten, als Joel Williams und die anderen Biblioklepten die
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