Der Geheime Orden
Antworten, die sehr viel mehr betrafen als meine Familienverhältnisse.«
Früh am Montagmorgen wartete ich vor den verschlossenen Türen der Houghton-Bibliothek. Ich hatte etwas getan, was für einen angehenden Medizinstudenten als Todsünde galt: Ich schwänzte die morgendliche Vorlesung in Organischer Chemie. Doch mir schwirrte der Kopf vor unbeantworteten Fragen zu diesem Buch und den fehlenden Seiten, sodass ich mich ohnehin auf nichts anderes konzentrieren konnte. Ich war überzeugt davon, dass zwischen dem Geist von Erasmus Abbott und einem seltenen Buch aus dem siebzehnten Jahrhundert, das Generationen von Gelehrten Rätsel aufgab, eine Verbindung existierte. Also stand ich um Punkt neun Uhr vor dem Eingang, als das Schloss aufschnappte und derselbe Sicherheitsbeamte die Tür öffnete, mit dem ich es bei meinem ersten Besuch zu tun gehabt hatte.
»Was kann ich heute für Sie tun?«, fragte er, nachdem er sich wieder hinter den kleinen Tisch in der Mitte der kalten Eingangshalle gesetzt hatte. Er trug keine Uniform wie bei meinem vorherigen Besuch, sondern präsentierte sich in einem mehrere Nummern zu klein geratenen Jackett und einem Paar wollener Hosen, die dringend neu gesäumt werden mussten.
Ich schaute zu der verglasten Ausstellungsvitrine hinüber und fasste mein Ziel ins Auge. Ein karmesinrotes Lederkästchen verkündete in goldenen Lettern kühn ihren legendären Inhalt: John Harvards Exemplar des Christlichen Feldzugs.
»Ich möchte mit einem der Referenzbibliothekare sprechen«, sagte ich.
»Haben Sie einen Termin?«, fragte er, öffnete die oberste Schreibtischschublade und zog ein Klemmbrett hervor.
»Nein, aber ich dachte mir, so früh am Morgen hätten sie vielleicht noch nicht so viel zu tun. Ich war letzte Woche schon mal hier und habe mich vormerken lassen, aber niemand hat sich zurückgemeldet. Der Abgabetermin für mein Projekt steht kurz bevor.«
»Sind Sie Student?«
Ich zückte meinen Ausweis, den er schweigend zur Kenntnis nahm.
»Ich sollte das wirklich nicht tun«, sagte er. »Man ist hier ziemlich streng, was die Terminplanung betrifft. Aber ich werde sehen, ob Ihnen jemand helfen kann.«
Ich hielt den Atem an, als er den Hörer nahm und jemandem meinen Namen nannte, bevor er fast wörtlich wiederholte, was ich ihm gesagt hatte. Er nickte ein paar Mal und legte dann auf.
»Heute ist Ihr Glückstag«, sagte er ohne zu lächeln. »Normalerweise machen sie keine solchen Ausnahmen, aber Thomas Forde, einer der Referenzbibliothekare, ist bereit, sich mit Ihnen zu treffen. Er hat erst in einer Stunde seinen ersten Termin.«
»Vielen Dank«, sagte ich und stürmte auf die Glastür zum Lesesaal zu, bevor der Mann es sich vielleicht anders überlegte.
»Moment, bitte«, rief er. »Sie müssen sich erst eintragen und sich einen Spindschlüssel geben lassen, bevor Sie in den Lesesaal können. Sie dürfen nur die Bücher und Papiere mit hineinnehmen, die Sie in der Hand halten, alles andere muss so lange draußen eingeschlossen werden. Sie können sich die Sachen anschließend wiederholen.«
Ich unterschrieb einen Zettel, und er zeigte mir den Weg zu einem kleinen Raum am Ende der Eingangshalle, in dem sich zwei Reihen von Stahlspinden befanden und ein wackeliger Garderobenständer an der Wand lehnte. Um mich auch ja an die Regeln zu halten, entledigte ich mich aller verbotenen Gegenstände, bevor ich durch die Eingangshalle zum Lesesaal marschierte, nur mit einem Schreibblock und ein paar Stiften bewaffnet.
»Links an der Wand ist eine Klingel«, sagte er. »Drücken Sie einmal darauf, dann wird jemand Sie einlassen.«
Ich tat, was er gesagt hatte. Ein paar Sekunden später öffnete sich das Schloss mit einem Klicken. Ich holte einmal tief Luft, und dann betrat ich eine der großartigsten Bibliotheken für Manuskripte und seltene Bücher, die es auf der Welt gab. Fünf lange Tische standen auf einem makellos gebohnerten Fußboden, der so glänzte, dass ich mich darin spiegeln konnte. Die Wände wurden in regelmäßigen Abständen von wandhohen Fenstern durchbrochen, durch deren geöffnete Jalousien ein Strom von Sonnenlicht den luftigen Raum erhellte und einen Hauch Frühling verbreitete. Im Saal herrschte eine peinlich sterile Atmosphäre von ernsthafter Gelehrsamkeit und drückender Ruhe.
»Mr. Collins, mein Name ist Thomas Forde«, rief ein Mann, kaum dass ich durch die Eingangstür gekommen war. »Ich bin einer der Referenzbibliothekare. Womit kann ich Ihnen heute
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