Der geheime Stern
heißen?”
“Genau das.” Seth steckte das Foto wieder ein. “Der hier sieht dem Typen, mit dem sie gestern herumgeturtelt hat, nicht unähnlich.”
“Herumgeturtelt?” Ihre Augen begannen zu funkeln. “Grace hat mit gar niemandem herumgeturtelt.”
“Ungefähr eins fünfundachtzig, blondes Haar, blaue Augen, italienischer Fünftausenddollaranzug und jede Menge Zähne.”
Es dauerte nur einen Moment. Unter anderen Umständen hätte M.J. gelacht. Doch die Geringschätzung auf Seths Gesicht ließ sie zischen: “Sie blöder Mistkerl. Das war ihr Cousin Julian, und er hat sie um Geld gebeten. Wie immer.”
Mit gerunzelter Stirn ließ Seth die Szene noch einmal Revue passieren. “Ihr Cousin … Das wäre dann der Bruder des Opfers?”
“Stiefbruder. Melissas Stiefbruder – der Sohn ihres Vaters aus erster Ehe.”
“Und der Stiefbruder der Verstorbenen hat Grace auf der Beerdigung um Geld angebettelt?”
Diesmal hatte sie nichts gegen seinen empörten Gesichtsausdruck einzuwenden. “Ganz genau. Julian ist ein schrecklicher Schleimer. Aber das ist nichts Besonderes, die meisten in der Familie nutzen Grace schamlos aus.” M.J. erhob sich. “Sie haben echt Nerven, hier hereinzuplatzen und den Moralapostel zu geben. Grace hat diesem Trottel einen Scheck über ein paar Tausend Dollar ausgeschrieben, um ihn sich vom Hals zu schaffen. So wie sie Melissa und noch einigen anderen immer wieder Geld gegeben hat.”
“Ich hatte den Eindruck, die Fontaines wären reich.”
“Reichtum ist relativ – vor allem wenn man im großen Stil lebt und die Kohle aus einem Treuhandfonds in Monte Carlo verspielt hat. Und Grace hat mehr Geld als die meisten aus der Familie, weil ihre Eltern es nicht mit vollen Händen ausgegeben haben. Was die komplette Verwandtschaft ärgert. Was glauben Sie denn, wer für die Beerdigung gestern aufgekommen ist? Nicht etwa die Mama der lieben Verstorbenen. Nein, Graces Tante hat erst die Hand nach Geld ausgestreckt und ihr dann nur Vorhaltungen gemacht. Und Grace hat sich nicht gewehrt, weil sie denkt, dass es besser ist, nicht zu reagieren und lieber im Stillen zu leiden. Glauben Sie mir, Sie kennen Grace kein Stück!”
Er hatte sich eingebildet, sie zu kennen. Aber die Einzelheiten, die er nach und nach erfuhr, passten nicht besonders gut zu diesem Bild. “Ich weiß, dass sie nichts für das kann, was ihrer Cousine geschehen ist.”
“Ja, dann erklären Sie ihr das mal. Als wir gestern bemerkten, dass sie verschwunden war, sind wir sofort zurück zu Cade gefahren. Sie lag weinend in ihrem Zimmer, und wir konnten sie nicht trösten. Und das alles nur, weil ihre Verwandtschaft nichts Besseres zu tun hat, als ihr das Leben zur Hölle zu machen.”
Nicht nur die Verwandtschaft, dachte er schuldbewusst. Auch er hatte seinen Teil dazu beigetragen.
“Wie es scheint, hat sie mit ihren Freundinnen mehr Glück als mit der Familie.”
“Weil wir uns weder für ihr Geld noch für ihren Namen interessieren. Weil wir nicht über sie urteilen. Wir lieben sie einfach. Also, wenn das alles ist, Lieutenant – ich habe zu arbeiten.”
“Ich muss mit Ms. Fontaine sprechen.” Seths Ton war so steif, wie M.J.s leidenschaftlich gewesen war. “Wissen Sie, wo ich sie finden kann?”
Sie zögerte einen Moment. Sie wusste, dass Grace nicht begeistert sein würde, wenn sie diese Information weitergab. Doch zugleich verspürte sie das dringende Bedürfnis, diesem Cop seine Vorurteile auszutreiben. “Klar. Versuchen Sie’s mal im Agnes Hospital . Kinderstation.” Das Telefon klingelte, sie riss den Hörer ans Ohr. “Sie werden Sie schon finden”, meinte sie noch. “Ja, O’Leary”, rief sie dann ins Telefon und wandte Seth den Rücken zu.
Er vermutete, dass Grace das Kind einer Freundin im Hospital besuchte, doch als er im Schwesternzimmer nach ihr fragte, bemerkte er, wie sich sämtliche Gesichter aufhellten.
“Ich glaube, sie ist gerade auf der Intensivstation.” Die Krankenschwester sah auf ihre Uhr. “Um diese Zeit ist sie das eigentlich immer. Kennen Sie den Weg?”
Verblüfft schüttelte Seth den Kopf. “Nein.” Er lauschte der Wegbeschreibung, während er nach Gründen suchte, warum Grace Fontaine “um diese Zeit immer” auf der Intensivstation sein sollte. Nachdem ihm keine Erklärung einleuchtend erschien, lief er den Gang entlang.
Er hörte das Babygeschrei hinter der Glasscheibe, blieb einen kurzen Moment stehen und betrachtete die Säuglinge in ihren kleinen Bettchen.
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