Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
den jungen Mann in Queensferry … Burges Augen wurden noch glasiger. Der Mann mit den hellblonden Haaren, der ein gewisses Interesse gezeigt hatte, als Pennyfeather mit seinem Vortrag begann, hatte den Blick abgewandt. Und Pennyfeather deklamierte vor sich hin, durchaus wohltönend, wenn er auch den ohnehin auffälligen Rhythmus zu sehr betonte: Titi- tum , ti-ti- tum … Plötzlich hörte Sheila das hektische Klappern der Räder unter ihr und stellte fest, daß sie instinktiv versuchte, den Rhythmus des Gedichts damit in Einklang zu bringen:
Wo am westlichsten Gipfel ein felsiger Sporn ragt,
Einem Falken gleich hoch überm Herzen der Bucht,
Nach dreimal sieben Meilen ein einsamer Born labt,
Eine Meile gen Morgen den Garten man sucht.
Pennyfeather deklamierte seine Verse, noch immer mit geschlossenen Augen. Auch Burge hatte die Augen geschlossen. Er konnte sich schlecht die Ohren zuhalten, und da schien es die zweitbeste Wahl. Selbst der Mann mit den blonden Haaren – der zuvor einen so wachsamen Eindruck gemacht hatte – wirkte nun schläfrig. Nur der Puls des Zuges wurde schneller, als rieche er schon die Wiesen und Auen, die noch weit vor ihm lagen. Und Pennyfeather strebte nicht minder unbeirrbar voran als das Gefährt, in dem er saß, und es dauerte nicht lange, da verkündete er auch schon, daß ein Gott fiel von eigner Hand auf dem eignen Altare und tot lag der Tod. Nie wieder in seinem Leben würde der streitsüchtige Burge sagen oder andeuten können, von Swinburne wisse er nichts.
Und das schien ein Ergebnis, mit dem der gestrenge Pennyfeather zufrieden war. Er hatte nicht vor, das Exempel, das er gegeben hatte, zu diskutieren, sondern zückte den Scotsman und hielt ihn sich wieder vor die Nase. Und ebensowenig schien Burge zur Widerrede geneigt. Wenn ein Mann, dem man ein paar mitreißende Zeilen über unser Flaggschiff die Lion zitierte, mit einer solchen Breitseite antwortete, dann ließ man sich wohl besser nicht mit diesem Mann ein. Burge holte selbst eine Zeitung hervor und widmete sich von da an allem Anschein nach dem Kreuzworträtsel. Ruhe kehrte im Abteil ein und hielt sich, bis der Zug in Perth einlief.
Kapitel 5
Sie macht sich Gedanken
Hier, dachte Sheila, haben wir immer unsere Picknickkörbe bekommen. Das Knarren, wenn man den Weidendeckel öffnete, der schwere Teller in ihrem Schoß, der Widerstand, den das kalte Hühnerbein beim Abbeißen leistete – an all das erinnerte sie sich plötzlich wieder mit der Klarheit einer Halluzination. Und heiße Sandsäcke kamen in jedes Abteil, gegen die Kälte der Highlands – wie lang das her war … denn seit ihrer Kindheit war sie nicht mehr im Norden gewesen, und nun weckte die Reise zu fremden Verwandten unzählige Erinnerungen in ihr.
Sheila runzelte die Stirn. War es möglich, daß eine unverheiratete Frau schon mit sechsundzwanzig ein so ungesundes Verhältnis zur Vergangenheit entwickelte? Sie blickte zum Fenster hinaus, als der Zug hielt, und versuchte Perth so unvoreingenommen wie möglich zu sehen. Da gab es ein Plakat, das für eine Reise nach York warb; ein zweites, besser gestaltetes, lockte nach Bayern; ein drittes warb Rekruten für das Militär. Alle drei boten Stoff zum Nachdenken ohne Nostalgie.
Pennyfeather war der erste, der ausstieg, gefolgt von dem jungen Mann mit blondem Haar. Dann ging auch Burge, und Sheila blieb allein mit ihrem Gepäck zurück. Sie wuchtete es nach draußen und schnüffelte dabei die Luft. Es roch, wie nicht anders zu erwarten, hauptsächlich nach Bahnhof, aber man konnte sich zumindest vorstellen, daß ein anderer Duft sich hineinmischte, ein Hauch, den der Wind von den Highlands heranwehte. Ein Aroma, das schon Scotts vornehmer junger Mann gekannt und das sich seither nicht im mindesten verändert hatte, nach Torf und Heide und den Kiefernnadeln des Waldbodens. Es war ein Duft, den man schon in der Nase hatte, wenn man nur an die Stationsnamen dachte: Kingussie, Blair Atholl, Aviemore – fremdartige Namen, wie man sie im schottischen Tiefland niemals fand. An einer davon, erinnerte sich Sheila, war früher immer ein abgerissener Alter erschienen, war den Bahnsteig entlangmarschiert und hatte Geige gespielt, und dann fuhr er ein paar Stationen weit mit und spielte bei jedem Halt, manchmal einen wilden, aufgewühlten Pibroch, manchmal einen sentimentalen schottischen Schlager aus der Music-Hall. Und in den Pausen dazwischen verkaufte er ein Bändchen mit eigenen Gedichten – armseligen Versen,
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