Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Täuschung war, als der Mann sie zum ersten Male ansprach. »Balmoral«, sagte er und wies auf das Fenster neben sich.
    Recht verblüfft kam Sheila auf seine Seite und sah hinaus. Etwa eine halbe Meile fort stand an einem Hang eine Jagdhütte mittlerer Größe. Und Balmoral mußte mindestens sechzig Meilen weit fort sein. »Also, ich glaube …« sagte Sheila.
    »Das ist Balmoral.«
    Damit war Burge wieder da. Dieser abstruse Irrtum und die Art, wie er darauf beharrte, war purer Burge. Aber es war zu spät, sie noch zu überzeugen. Unwillkürlich wanderte Sheilas Blick zu der Ablage, auf die eine Stunde zuvor der Mann, der nicht Burge war, ihr Gepäck gewuchtet hatte. Und die Augen des Mannes gegenüber folgten ihrem Blick.
    Sie schwiegen. Der Zug keuchte eine wilde, einsame Schlucht hinauf, in der es schon beinahe dunkel war. Einen Moment lang war das Plätschern eines Wasserfalls zu hören, dann war das Geräusch wieder fort. Sheila sagte: »Ich glaube, so ganz Ihr Fall war der Swinburne nicht.« Sie hatte ein unbestimmtes Gefühl, als ob sie damit absichtlich den Fuß auf zu dünnes Eis setzte und als ob sie dies, hätte sie nicht von Dousterswivel und Edie Ochiltree und dem jungen Mann von vornehmer Erscheinung gelesen, niemals getan hätte. Vielleicht war es aber auch nur der Geruch des Moors. Jedenfalls hatte sie die Worte gegen die Warnung einer inneren Stimme, die zur Vorsicht mahnte, gesprochen.
    »Swinburne?« fragte ihr Gegenüber. »Was dieser Bursche zum Besten gab? Nehme an, das ist schon in Ordnung, wenn man solche Sachen mag. Ich mag sie eben nicht, das ist alles.«
    »Seltsam«, meinte Sheila, »daß er vier eigene Zeilen hineingemogelt hat.«
    »Eigene Zeilen?« Der Mann gegenüber sah sie mit großen Augen an.
    Sheila nickte.
    Wo am westlichsten Gipfel ein felsiger Sporn ragt,
    Einem Falken gleich hoch überm Herzen der Bucht.
    »So fingen sie an. Und wer das Gedicht kennt, merkt natürlich sofort, daß sie nicht dazugehören.«
    Der Mann gegenüber betrachtete sie mit äußerstem Mißtrauen – einer grimmigen Empörung, die reinster Burge war. Aber dahinter spürte Sheila, wenn sie es sich nicht doch einbildete, kühle Berechnung. Und im selben Augenblick vernahm sie in ihrem inneren Ohr eine Stimme: »Ich habe eine Decke im Wagen.«
    Sheila unterdrückte alle aufkommende Panik und überlegte genauer. Ich habe eine Decke im Wagen … die Worte eines jungen Mannes, der sich ihr einmal an der Forth-Brücke mit eindeutiger Absicht genähert hatte. Nicht daß sie einen Annäherungsversuch von dem Mann gegenüber befürchtet hätte. Die Worte – die eine Art Schlüssel oder Code gewesen waren – waren ihr ja schon früher in den Sinn gekommen, als der Zug auf der Brücke stand und – ja, das war es – als der Mann, den sie Pennyfeather getauft hatte, so grimmig »Gedichte?« gesagt hatte. Es konnte doch …
    »Die pure Prahlerei, nehme ich an«, sagte der Mann ihr gegenüber. »Solche armseligen Burschen müssen sich etwas einfallen lassen. Wahrscheinlich kritzelt er seine Verse in der Zeit, in der er eigentlich über den Rechnungsbüchern brüten sollte. Aber ich muß sagen, für meine Ohren klang der Vers genau wie alle anderen … fahren Sie weit?«
    »Drumtoul – noch vier Stationen.« Sheila sagte es ohne nachzudenken. Der Rhythmus des Zuges hatte sich verändert; jetzt ging es wieder bergab, und auf der einen Seite weitete sich der Paß zu einem einsamen Moor. Eine einzige große Wolke, zerzaust und schon rot vom Abendlicht, stand am Himmel; die Schafe, die vor dem herankommenden Zug die Flucht ergriffen, waren nur noch Schatten, die mit dem Dämmerlicht verschmolzen. Sheila wußte nicht warum, aber sie fügte noch hinzu: »Ich werde abgeholt.«
    Der Mann gegenüber sagte nichts, aber sein Blick wanderte noch einmal hinauf zum Gepäck. Dann sah er das Seil für die Notbremse an: es verlief über Sheilas Kopf. Und dann, als wolle er gern einmal eine andere Aussicht sehen, rutschte er lässig auf die Seite, auf der sie zuerst gesessen hatte. Er lächelte – ein Lächeln, das eindeutig zu Burges besserem Ich gehörte. Junge Frauen mit viel Phantasie, schien das Lächeln zu sagen, fühlten sich gewiß wohler, wenn sie sicher sein konnten, daß das Notbremsseil jederzeit zu erreichen war. Und das ließ sich ja einrichten.
    Damit war die Panik, die Sheila in sich gespürt hatte, fort. Aber Verwunderung und erste Spekulationen blieben. Und in diese versank sie so sehr, daß der Zug gehalten