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Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Titel: Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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aber doch nicht so schlecht, daß die Reisenden ihn auslachten, allenfalls die ungehobelten darunter. Er war schäbig und vielleicht nicht ganz ehrlich, aber die Eisenbahner und die Stammgäste hatten ihn ins Herz geschlossen. Er setzte sich zu den Schäfern und ihren Hunden ins Bremserhäuschen und plauderte. Ein romantischer Bettler, herübergekommen aus einer anderen Zeit. Und inzwischen sicher längst tot.
    Sheila war so beschäftigt mit solchen Überlegungen und einem Telefonanruf, den sie noch machen wollte, daß sie beinahe ihren Anschluß verpaßt hätte. Das wäre wohl auch geschehen, hätte nicht ein kräftiger Kofferträger dafür gesorgt, daß sie noch mitkam. Er hievte sie kurzerhand in ein Abteil, und dort fand sie sich, ihr Gepäck auf dem Boden, gerade als der Zug anfuhr. Und sie erschrak ein wenig, als sie wieder zu Atem kam und feststellte, daß der einzige andere Reisende in diesem Abteil Burge war.
    Er saß in der Ecke ganz wie ein Mann, der froh gewesen war, daß er das Abteil für sich hatte. Trotzdem erhob er sich unverzüglich und verstaute ihren Koffer und ihre Hutschachtel auf der Gepäckablage. Sheila nahm Platz in der gegenüberliegenden Ecke, und sie fühlte sich verwirrt, sehr verwirrt sogar. Denn der streitsüchtige Mann war kein Burge. Burge war nicht der richtige Name für ihn. Solche Fehler unterliefen ihr sonst nicht.
    Sheila holte wieder den Altertümler hervor, und verschanzt hinter dem wenigen, was er an Deckung bot, beobachtete sie ihr Gegenüber, so gut sie konnte. Der redselige Mann – der Mann, der zuvor so redselig gewesen war – trug einen Anzug, der zu Burge gepaßt hätte. Vielleicht konnte man sagen, daß er als Burge auf die Welt gekommen war: das Ungeschlachte, die unterschwellige Brutalität, das war Burge, wie er leibte und lebte. Aber dieser Mann war kein Burge. Nicht nur weil er aufgestanden war und ihr mit ihrem Gepäck geholfen hatte – obwohl das sicher der Anstoß zu ihren Überlegungen gewesen war. Ein junger Mann von vornehmer Erscheinung, der in Geschäften im Nordosten von Schottland zu tun hatte … Das war die Erklärung. Der Mann, den sie Burge genannt hatte, war, auch wenn er sich anders gab, ein Gentleman. Sie sah es in seinen Gesichtszügen, an der Art, wie er mit ernster Miene auf den schottischen Spätnachmittag hinausblickte.
    Sheila schlug willkürlich eine Seite ihres Romans um und dachte über diese seltsame Erkenntnis nach. Es konnte ihr doch egal sein, ob ein Mann ein Gentleman war oder nicht. Es mochte vorkommen, daß ein Gentleman eine unkultivierte, ja aggressive Vorliebe für unser Flaggschiff namens Lion hatte. Es mochte vorkommen, daß er sich betrug wie ein Dummkopf, der einen Streit in einem Lokal anzettelte. Es mochte vorkommen – Sheila starrte die Buchstaben an, die ihr vor den Augen verschwammen. Es paßte einfach nicht zusammen. Etwas an diesem Mann, der da still in seinen viel zu auffälligen Kleidern in der Ecke saß, stimmte nicht … Sheila riskierte noch einmal einen Blick und kam zu einem weiteren, nicht minder beunruhigenden Schluß. Eigentlich war er doch nicht ganz das, was für ihre Begriffe den Gentleman ausmachte. Eher eine verwandte Spezies.
    Diese kuriosen Spekulationen zur Herkunft ihres Mitreisenden waren so sichtlich sinnlos, daß Sheila sich einen Ruck gab und sich wieder auf ihr Buch konzentrierte. Die entspannte Erzählung hatte eben mit dem Eintreffen des sinistren Fremdlings namens Dousterswivel an Tempo gewonnen; außerdem lief es offenbar auf eine Art Schatzsuche hinaus. Sie vertiefte sich in das Buch, bis die Landschaft draußen schon in schräge Schatten getaucht war. Die Schatzsuche erwies sich als Trick von Dousterswivel. Es sollte eine zweite geben … eine dritte. Sheila folgte in Gedanken den Windungen der Geschichte, so wie der Zug sich durch die Bastionen der Grampians wand. Von Zeit zu Zeit warf sie verstohlen noch einen weiteren Blick auf ihren einzigen Reisegefährten. Er war und blieb ihr ein Rätsel.
    Und dann sah Sheila etwas Merkwürdiges. Sie spürte, daß der Mann in der Ecke ihre gelegentlichen musternden Blicke bemerkt hatte. Daran war nichts Schlimmes. Doch was sie sah, das war, wie, als Folge davon, vorsichtig, Burge zurückkehrte. Millimeter um Millimeter, wie ein Entfesselungskünstler, der sich aus einer versiegelten Kiste schlängelte, nahm Burge – die Idee von Burge – wieder von ihrem Gegenüber Besitz. Sie hatte sich gerade versichert, daß diese Beobachtung keine

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