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Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)

Titel: Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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legte den Brief beiseite und griff zu dem Zeitungsausschnitt, der ihm beigelegen hatte. Hier waren, sah er, jene Zeilen, die »mit einem Gedicht zu tun« hatten und an die Hetherton sich bei ihrer letzten Begegnung vergebens zu erinnern versucht hatte. Es war ein Leserbrief an eine Sonntagszeitung, von einer Art, wie man sie in solchen Gazetten häufig fand.
    Sehr geehrte Herren!
    Vor kurzem hörte ich – unter ein wenig merkwürdigen Umständen – ein Gedicht, von dem mir nur die folgenden Zeilen noch im Gedächtnis geblieben sind:
    Kennst du den Garten
    Im hohen Nord,
    Wo Legenden berichten
    Vom bergigen Ort,
    Wo ein Frühlingsquell sprudelt
    So munter fort,
    Eh noch der Winter entflieht …
    Wäre es zuviel verlangt, wenn ich Leser, die den Urheber dieser unbedeutenden Zeilen kennen, bäte, mich aufzuklären?
    Ihr ergebener etc.
    PHILIP PLOSS
    Es wäre, dachte Appleby, entschieden zuviel verlangt. Denn bevor ein Leser Gelegenheit bekommen hatte zu antworten, war Ploss bereits tot. Er war in der Nacht von Freitag auf Samstag ermordet worden, und der seltsame kleine Brief war erst zwei Tage später erschienen. Wann hatte er ihn verfaßt? Die Feuilletons der dicken Sonntagszeitungen wurden vermutlich schon Anfang der Woche gesetzt … Appleby griff zum Telefon, und eine Viertelstunde später wußte er Bescheid. Er erfuhr, daß ein Brief, der später als Mittwoch eintraf, in der Regel erst in der darauffolgenden Woche berücksichtigt wurde. In diesem speziellen Falle war es jedoch anders gewesen. Ein anderer Brief war zurückgezogen worden, und der Redakteur, der am Freitag morgen nach einem Ersatz suchte, hatte Plossens Namen gesehen und den Brief in die Setzerei geschickt. Er war erst an jenem Morgen eingetroffen und war auf den Vortag unter der Adresse seines Clubs datiert. Donnerstag, erinnerte sich Appleby, war der Tag von Plossens letztem Ausflug in die Stadt gewesen.
    Dies waren gewiß, wie Hetherton gesagt hätte, müßige Erkundigungen. Und war es nicht auch Hetherton gewesen, der ihn einmal mit einer gewissen Strenge ermahnt hatte, Gründlichkeit sei kein Ersatz für Logik? Appleby erhob sich, ging ans Fenster und blickte hinaus auf Embankment und Themse. Welche Logik sollte eine Verbindung herstellen zwischen Plossens Tod und dieser unbedeutenden belletristischen Erkundigung, deren Niederschrift eine seiner letzten Taten auf Erden gewesen war? Und wieviel Erleuchtung war schon in den finsteren Nischen von Dr.   Borers Bibliothek zu erwarten? Aber was hatte Ploss damit gemeint – er warf noch einmal einen Blick auf den Zeitungsausschnitt –, als er von ein wenig merkwürdigen Umständen schrieb …? Appleby griff nach seinem Hut.
    Es war die Jahreszeit, die in London als öde und langweilig gilt, als »ausgestorben« nach den Maßstäben mancher. Als er den Trafalgar Square in Richtung Charing Cross Road überquerte, versuchte Appleby sich auszumalen, wie es wäre, wenn die Stadt wirklich ausgestorben wäre. Ein sinistres Bild von de Chirico kam ihm in den Sinn, ein Traumbild aus breiten verlassenen Straßen und Kolonnaden, bevölkert nur von einem einzigen geheimnisvollen Schatten. So etwa würde es aussehen. Aber letzten Endes konnte man es sich nicht vorstellen. Unmöglich, obwohl es Hinweise, Anregungen genug gab. Die Stadt war anders geworden, auch wenn die Dinge noch so sehr ihren gewohnten Gang gingen. Das Leben ging seinen Gang wie immer, doch die ganze Stadt wartete: in diesem Paradox ließ es sich wohl am besten ausdrücken. Sie wartete. Und wenn alle warten, dann fühlt man sich instinktiv zur Eile gedrängt. Appleby, der am liebsten zu Fuß durch London ging, stellte fest, daß er seine Schritte beschleunigte. Vielleicht half es ihm, wenn er schneller ging. Vielleicht half es, wenn er möglichst rasch nach Bloomsbury kam und herausfand, ob der poetische Ploss in Dr.   Borers Bibliothek dem obskuren Sweetapple auf der Spur gewesen war.
    Er hielt ein Taxi an – nicht dieser Spekulationen wegen, sondern weil seine Arbeitskraft ja schließlich dem Staat gehörte. Und fünf Minuten später setzte das Taxi ihn wie eine Zeitmaschine in einem Zukunftsroman an der Schwelle zum achtzehnten Jahrhundert ab. Seltsam, welch eine Befriedigung diese strengen Fassaden vermittelten – obwohl sie wahrscheinlich nichts weiter waren als ein strikt eingehaltener goldener Schnitt. Merkwürdig war eigentlich nur, daß die Menschen in ihrer unendlichen Verirrung jemals auf die Idee gekommen waren anders zu

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