Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Briefen meiner Großmu t ter kenne. Briefe voller Klatsch und Tratsch über Teegesel l schaften und Bälle und Skandale in den h ö heren Ständen, während ich im staubigen, langweiligen Indien hocke und dem Af f chen eines Drehorge l spielers zusehe, das seit Jahren den gleichen Taschenspiele r trick vorführt.
»Guckt mal, das Affchen, Memsahib. Wie entz ü ckend es ist!« Sarita sagt es, als wäre ich erst drei Jahre alt und hi n ge am Rockzipfel ihres Saris. Niemand scheint zu begre i fen, dass ich erwachsene sechzehn bin und nach London will, nein, muss, in die Nähe von Theatern, Bällen und von Männern, die älter als sechs und jünger als sechzig sind.
»Sarita, der Affe ist ein dressierter Dieb, der dir im Handumdrehen deinen Lohn aus der Tasche ziehen wird«, sage ich mit einem Seufzer. Wie aufs Stic h wort klettert der haarige Bengel auf meine Schulter und streckt seine flache Hand aus. »Wie würde es dir gefallen, dein Leben in einem Geburtstagseintopf zu beenden?«, frage ich mit zusa m mengebissenen Zähnen. Das Äffchen faucht. Mutter ve r zieht tadelnd das Gesicht über mein schlechtes Benehmen und lässt eine Münze in den Becher des Besitzers fallen. Das Äffchen grinst triumphierend und springt über me i nen Kopf, bevor es das Weite sucht.
Ein Händler streckt uns eine Maske mit gebleckten Zä h nen und Elefantenohren hin. Mutter nimmt sie wortlos und hält sie sich vors Gesicht. »Wo bin ich?«, ruft sie. Es ist ein Spiel, das sie mit mir g e spielt hat, seit ich laufen kann –eine Art Verstec k spiel, um mich zum Lächeln zu bringen. Ein Kinde r spiel.
»Ich sehe immer noch meine Mutter«, sage ich gelan g weilt. »Die gleichen Zähne, die gleichen Ohren.«
Mutter gibt dem Händler die Maske zurück. Ich habe sie in ihrer Eitelkeit gekränkt.
»Und ich stelle fest, dass es meiner Tochter nicht sehr gut bekommt, sechzehn zu werden«, sagt sie.
»Ja, ich bin sechzehn. Sechzehn. Ein Alter, in dem die meisten anständigen Mädchen ihre Schulbildung in London erhalten.« Ich lege besondere Betonung auf das Wort a n ständig, in der Hoffnung, damit an ein mütterliches Grun d bedürfnis zu appellieren.
»Die sieht mir noch ein wenig grün aus.« Sie b e trachtet konzentriert eine Mango. Die Inspektion der Frucht nimmt ihre volle Aufmerksamkeit in A n spruch.
»Niemand hat versucht, Tom in Bombay festz u halten«, sage ich, den Namen meines Bruders als letzten Trumpf ausspielend. »Er ist schon vier Jahre dort! Und jetzt b e ginnt er mit dem Studium.«
»Bei Männern ist das etwas anderes.«
»Das ist ungerecht. Ich werde nie eine Chance haben. Ich werde als alte Jungfer mit Hunderten von Katzen e n den, die Milch aus Porzellannäpfen tri n ken.« Ich breche in Tränen aus. Weinen macht häs s lich, aber ich bin machtlos dagegen und kann nicht aufhören zu heulen.
»Ich verstehe«, sagt Mutter schließlich. »Möchtest du in den Ballsälen der Londoner Gesellschaft wie eine Preisst u te vor g eführt werden, um deine Zuch t qualitäten abschätzen zu lassen? Würdest du London immer noch so bezaubernd finden, wenn du wegen des kleinsten Regelverstoßes zum Ziel böswilliger Gerüchte wirst? London ist nicht so idy l lisch, wie es in den Briefen deiner Großmutter scheint.«
»Was soll ich dazu sagen? Ich habe es ja nie ges e hen.«
»Gemma …« Mutters Ton ist beschwörend, auch wenn das unveränderliche, für die Inder bestimmte Lächeln nicht aus ihrem Gesicht weicht. Sie sollen nicht denken, wir Engländerinnen seien so unfein, Meinungsverschiedenhe i ten auf der Straße auszutr a gen. Wir reden nur übers Wetter, und wenn das We t ter schlecht ist, tun wir, als bemerkten wir es nicht.
Sarita kichert nervös. »Wie ist ’ s möglich, dass Mems a hib jetzt eine junge Dame ist? Mir scheint, als hätten Sie gestern noch im Kinderzimmer gespielt. Oh, schaun Sie nur, Datteln! Ihre Lieblingsspeise.« Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln voller Zahnlücken, das jede einzelne der tief eingegrabenen Runzeln in ihrem Gesicht lebendig we r den lässt. Es ist heiß und plötzlich möchte ich schreien und davo n laufen, weg von allem und jedem hier.
»Diese Datteln sind wahrscheinlich im Innern faulig. Genau wie Indien.«
»Gemma, jetzt reicht es.« Mutter heftet ihre durchdri n genden grünen Augen auf mich. Die gle i chen leuchtend grünen Augen mit den hochgewöl b ten Brauen, die ich auch habe. Die Inder finden sie beunruhigend, verwirrend. Als würde man von einem Geist beobachtet.
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