Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Kricke t schläger meines Vaters, eine E r innerung an ihn aus glücklicheren Tagen.
Tom hilft mir in den Wagen und der Kutscher lässt die i m posante, feine Dame namens Victoria Station hinter sich und rollt klipp-klapp dem Herzen von London entgegen. Die Luft ist trüb, geschwängert vom Rauch der Gaslate r nen, die die Straßen Londons säumen. Das neblige Grau taucht den späten Nac h mittag bereits in ein Dämmerlicht. Alles Mögliche könnte sich auf solch dunklen Straßen von hinten an einen heranschleichen. Ich weiß nicht, wieso ich das denke, aber ich tu ’ s.
Über den düsteren Umrissen der Schornsteine r a gen die nadeldünnen Türme des Parlamentsgebäudes hervor. Unten auf der Straße buddelt ein Trupp Mä n ner schweißgebadet tiefe Gräben in das Kopfstei n pflaster.
»Was tun die da?«
»Sie legen Leitungen für elektrisches Licht«, antwortet Tom und hustet dabei in ein weißes Tasche n tuch, das in einer Ecke sein schwarz eingesticktes Monogramm trägt. »Das Gaslicht wird bald der Ve r gangenheit angehören und damit auch diese Hust e rei.«
Händler mit ihren Karren, von denen sie mit ihrem sp e ziellen, unverwechselbaren Ruf –Scharfe Messer, frische Fische, Äpfel, saftig und süß –kommen Sie, schauen Sie, probieren Sie! –ihre Waren feilbieten, bevölkern die Str a ßen. Milchmädchen tragen die letzte Milch des Tages aus. Auf merkwürdige Weise erinnert die gesamte Szenerie an Indien. Die Scha u fenster der Läden locken mit allem, was man sich nur vorstellen kann –Tee, Wäsche, Porzellan und schöne Kleider nach der neuesten Pariser Mode. Ein Schild an einem Fens t er im zweiten Stock bietet Büroräume zur Vermietung an ; Auskünfte im Haus. Fahrräder sausen an den vielen zweirädrigen Droschken auf den Straßen vorbei. Ich klammere mich fest für den Fall, dass das Pferd scheut, aber die Mähre, die uns zieht, scheint vollkommen unint e ressiert. Sie kennt das alles schon, im Unterschied zu mir.
Ein Omnibus, gedrängt voll mit Passagieren, überholt uns, gezogen von einem Gespann prächtiger Pferde. In den Sitzen auf dem Oberdeck hockt eine Gruppe feiner Damen. Um der Schicklichkeit Gen ü ge zu tun, verdeckt eine lange Holzlatte mit einer Seifenreklame die Knöchel der Damen. Der Anblick ist unbeschreiblich und weckt in mir den Wunsch, einfach immer weiter durch die Straßen von Lo n don zu kutschieren und die Atmosphäre in mich aufzune h men, die ich nur von Fotografien kenne. Männer in dun k lem Anzug und Melone treten aus Amtsg e bäuden, um nach Dienstschluss zufrieden den Heimweg anzutreten. Ich s e he die weiße Kuppel der Sankt-Pauls-Kathedrale, die sich über den rußg e schwärzten Dächern erhebt. Ein Plakat lädt zu einer Aufführung von »Macbeth« mit der amerikan i schen Schauspielerin Lily Trimble ein. Sie ist atembera u bend, mit ihrem offenen, wilden kastanienbraunen Haar und dem roten, schamlos tief ausgeschnittenen Kleid. Ich bin neugierig, ob die Mädchen in Spence genauso reizend und unbefangen sein werden.
»Lily Trimble ist sehr schön, nicht wahr?«, sage ich, um ein wenig Konversation mit Tom zu machen. Ein Feh l schlag, wie sich zeigt.
»Eine Schauspielerin«, entgegnet Tom verächtlich. »Was für eine Art von Leben ist das für eine Frau, ohne ein Zuhause, ohne Ehemann und ohne Kinder? Als sei sie ihr eigener Herr und Meister. Mit Siche r heit wird sie in der Gesellschaft nie als eine richtige Dame akzeptiert werden.«
Das kommt davon, wenn man Konversation m a chen will.
Einerseits möchte ich Tom für seine Überheblichkeit e i nen Tritt gegens Schienbein verpassen. And e rerseits muss ich leider zugeben, dass es mich bre n nend interessiert, was Männer bei einer Frau suchen. Mein Bruder mag arrogant und aufgeblasen sein, aber er weiß gewisse Dinge, die für mich von Nutzen sein könnten.
»Ich verstehe«, sage ich leichthin, als wollte ich mich erkundigen, was einen hübschen Garten au s macht. Ich bin taktvoll. Höflich. Damenhaft. »Und was macht eine richt i ge Dame aus?«
Mit einem Gesicht, als hätte er eine Pfeife im Mund, antwortet er: »Ein Mann möchte eine Frau, die ihm das Leben leicht macht. Sie soll attraktiv sein, wohlerzogen, sie soll etwas von Musik, Malerei und der Haushaltsführung verstehen, vor allem aber soll sie Unannehmlichkeiten von ihm fernhalten und niemals die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken.«
Das kann doch nur ein Scherz sein. Bestimmt wird er im nächsten Moment lachen und sagen, dass
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