Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
er einen Spaß gemacht hat, aber das selbstgefällige L ä cheln weicht nicht aus seinem Gesicht. Ich denke nicht daran, diese Beleid i gung unwidersprochen hi n zunehmen. »Mutter war Vater ebenbür t ig«, sage ich kühl. »Er erwartete nicht, dass sie wie ein unterwü r figes, willenloses Dummchen hinter ihm ging.«
Toms Lächeln schwindet. »Genau. Und du siehst, wohin es uns gebracht hat.« Dann herrscht wieder Schweigen. Draußen vor den Fenstern der Droschke rollt London vo r über. Tom wendet sein Gesicht von mir ab und schaut hi n aus. Zum ersten Mal nehme ich seinen Schmerz wahr, e r kenne ihn daran, wie er sich mit den Fingern durchs Haar fährt, ein ums andere Mal, und ich verstehe, was es ihn kostet, all das zu verbergen. Aber ich weiß nicht, wie ich dieses b e drückende Schweigen durchbrechen kann, und so fahren wir weiter, alles aufmerksam betrachtend, o h ne viel zu sehen, ohne zu reden.
»Gemma …« , Tom setzt zum Sprechen an. Er kämpft mit sich, irgendetwas brodelt in ihm und will heraus. »An jenem Tag mit Mutter … warum zum Teufel bist du we g gelaufen? Was hast du dir dabei gedacht?«
Meine Stimme ist ein Flüstern. »Ich weiß es nicht.« Auch wenn es stimmt, so ist es doch keine befriedigende Antwort.
»Die weibliche Unlogik.«
»Ja«, sage ich, nicht weil ich ihm zustimme, so n dern weil ich ihm entgegenkommen will, irgendwie. Ich sage es, weil ich möchte, dass er mir verzeiht. Vielleicht könnte ich dann anfangen, mir selbst zu verzeihen. Vielleicht.
»Kanntest du diesen …« , er beißt sich an dem Wort fest, »Mann, den sie mit ihr ermordet aufg e funden haben?«
»Nein«, flüstere ich.
»Sarita sagt, du seist hysterisch gewesen, als sie und die Poli z ei dich fanden. Du hättest andauernd von einem ind i schen Jungen geredet und einer Vision von … von irgen d was.« Er schweigt und reibt die Handflächen an seiner H o se. Er sieht mich noch i m mer nicht an.
Meine Hände zittern in meinem Schoß. Ich könnte es ihm sagen. Ich könnte ihm sagen, was ich bisher fest in mir verschlossen habe. Jetzt, in diesem Moment, mit dieser Haarlocke, die ihm in seine Augen fällt, ist er der Bruder, den ich vermisst habe, der mir einstmals Steine aus dem Meer gebracht hat und b e hauptete, es seien Juwelen eines Radschas. Ich möchte ihm sagen, dass ich Angst habe, langsam ve r rückt zu werden, und dass mir nichts mehr vollko m men real erscheint. Ich möchte ihm von der Vision erzählen, möchte, dass er mir auf diese ungelenke Art den Kopf streichelt und dass alles eine völlig einleuchtende medizinische Erklärung findet. Ich möc h te ihn fragen, ob es sein kann, dass ein Mädchen von Geburt an nicht li e benswert ist , oder ob es erst im Laufe der Zeit so wird. Ich möchte, dass er alles e r fährt und dass er versteht.
Tom räuspert sich. »Was ich sagen wollte, ich meine, ist dir etwas passiert? Hat er … bist du ganz in Ordnung?«
Ich schlucke die Worte, die ich schon fast auf der Zunge hatte, wieder hinunter. »Du möchtest wissen, ob ich noch unberührt bin.«
»Wenn du es so direkt ausdrücken willst, ja.«
Jetzt erkenne ich, wie lächerlich es von mir war zu gla u ben, er möchte wissen, was wirklich geschehen ist. Es geht ihm ausschließlich darum, dass ich der Familie nicht i r gendwie Schande bereitet habe. »Ja, ich bin, um deine Au s drucksweise zu gebrauchen, ganz in Ordnung.« Über eine solche Lüge kann ich nur lachen –selbstverständlich bin ich nicht in Ordnung. Aber es funkti o niert, genau wie ich es erwartet habe. So ist das Leben in der feinen Gesel l schaft –eine einzige, große Lüge. Eine Illusion, wo jeder wegschaut und so tut, als würde überhaupt nichts Unang e nehmes existieren, keine finsteren Dämonen, keine Seele n pein.
Tom strafft erleichtert seine Schultern. »Dann ist ’ s ja gut.« Der Augenblick einer menschlichen Regung ist vo r bei und er hat sich wieder voll unter Kontrolle. »Gemma, der Mord an Mutter ist eine Schande für unsere Familie. Es wäre ein Skandal, wenn die Wahrheit bekannt würde.« Er starrt mich an. »Mutter ist an der Cholera gestorben«, sagt er mit Nachdruck, als würde er die Lüge jetzt selbst gla u ben. »Ich weiß, du bist damit nicht einverstanden, aber als dein Br u der sage ich dir, je weniger darüber geredet wird, desto besser. Es ist zu deinem eigenen Schutz.«
Er lässt nur seinen Verstand sprechen, nicht sein Herz. Seine Vernunft wird ihm später als Arzt von Nutzen sein. Ich weiß, dass er
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