Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
seiner Kinder- und Jugendzeit. Aus dem Augenwinkel sah er es. Auf der anderen Straßenseite trat ein Mann aus einem Torbogen. Das Anheben. Die ausgestreckten Arme.
Er warf sich mit aller Kraft gegen den Fahrer. Sie gingen zu Boden, als der erste Schuss in die Glastür des Hotels einschlug. Domorows Mann zog eine Waffe, und sie krochen beide in den Schutz des gepanzerten Wagens. Weitere Schüsse fielen, Menschen flüchteten schreiend in Hauseingänge. Dann wurde es still. Saschas Herz raste, als er zum Heck des Autos kroch und über die Straße blickte. Auf dem Bürgersteig gegenüber lag ein Mann mit weit ausgebreiteten Armen.
Erste Passanten traten vorsichtig zurück auf den Gehweg, sahen sich um und eilten davon. Keine Menschentraube um den Mann am Boden. Innerhalb von Sekunden war die Straße menschenleer.
Sascha erhob sich. Die Waffe des Toten war in den Rinnstein gerutscht. Er wollte hinübergehen, aber der Fahrer hielt ihn fest. Mit schussbereiter Waffe suchte er die Fenster der gegenüberliegenden Häuser ab. Dann zog er Sascha am Arm mit sich in die Hotellobby.
Der Mann an der Rezeption und der junge Kellner, der Sascha und Irina am Nachmittag bedient hatte, kamen leichenblass aus der Deckung des Tresens.
»Packen Sie«, zischte der Fahrer, »und kommen Sie zum Hinterausgang. Beeilen Sie sich.« Dann lief er zum Wagen und fuhr davon.
Sascha nahm die Treppe hinauf in den dritten Stock und schlug mit der Faust gegen Irinas Zimmertür. »Irina, ich bin es. Mach auf.«
Nichts rührte sich.
Kapitel 26
I lja stand wieder in der morgendlichen Kälte auf dem Appellplatz. Er war der Letzte in der vierten Reihe, stand ganz rechts. Neben ihm schlug Stas die Arme um den Körper und fluchte leise vor sich hin. Die Wachtürme waren seit Wochen unbesetzt. Kein Sek würde im Winter versuchen, aus dem Lager zu entkommen. Eine Flucht wäre der sichere Erfrierungstod. Die Wachmannschaften standen im Schutz der Baracken und rauchten.
Etwa dreißig Meter. Dreißig Meter müsste er laufen, um in die verbotene Zone zu gelangen. Im Krankenrevier hatte er es im Geiste Hunderte Male durchgespielt. Die Wachleute würden »Stehen bleiben!« rufen. Er würde weiterlaufen, weiter auf den Zaun zu. Dann würden die ersten Schüsse fallen. Wenn sie ihn nicht tödlich trafen, musste er sich aufrappeln, versuchen weiterzulaufen, bis der tödliche Schuss fiel. Er würde ihn noch hören. Es wäre das Letzte, was er hören würde.
Er atmete mehrere Male tief durch, zitterte am ganzen Körper. Es war nicht nur die Kälte.
Jetzt! Jetzt!
Seine Beine gehorchten ihm nicht, die Füße waren wie festgefroren.
Er sah den Lagerkommandanten auf den Platz kommen. Die Wachmänner traten aus dem Schutz der Baracken, und einer stellte sich auf Höhe der vierten Reihe hin, nur zwei Meter von Ilja entfernt. Er müsste ihn umstoßen, um an ihm vorbeizukommen. Der Mann war kräftig. Wenn er es nicht schaffte, wenn der Kerl ihn einfach festhielt, dann würde er im Isolator landen. Erfrieren. Verhungern. Nein! So nicht.
Dieses Denken. Wenn nur dieses ständige Denken nicht wäre. Wenn er doch loslaufen könnte wie ein Hase. Gedankenlos.
Sie zählten durch. Er rief seine Nummer, und damit war es vorbei. Er hätte nicht sprechen dürfen, nicht dieses Lebenszeichen von sich geben. Jetzt boykottierte sein Körper, so schien es ihm, seinen Entschluss endgültig.
Der Weg zur Mine. Aus der Bewegung heraus ginge es sicher leichter. Seine Füße wären nicht wie angewachsen, der Schritt aus der Reihe würde leichter fallen. Nicht denken! Nicht darüber nachdenken!
Sie gingen zum Tor hinaus. Vor ihm Juri, neben ihm Stas. Das erste Tageslicht zeigte sich am Horizont. Malvenfarbenes Rot. Malvenfarbene Lebensgier. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Augen. Er saugte die kalte Luft tief in die Lunge.
Heute nicht. Heute noch nicht.
Juri Schermenkos Brigade war geschwächt vom Hunger. Die Kälte tat das Übrige. Sie schafften nur einen Bruchteil ihres Solls. Ilja gehörte jetzt, trotz seiner amputierten Finger, zu den Leistungsfähigen. Juri bat ihn, die Arbeit an der Lore zu übernehmen.
Die Finger, die er nicht mehr besaß, schmerzten. Es war, als hingen sie an unsichtbaren Nerven- und Muskelfäden, und es gab diesen absurden Impuls, sie um den Griff der Schubkarre zu legen. Phantomschmerzen. Und er dachte, so ist es nicht nur mit meinen Fingern, so ist es mit meinen Zähnen, die ohne Speise kauen, mit meinem leeren Magen, der immerzu arbeitet. Da ist
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