Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
hingen die Porträts der verstorbenen ruhmvollen Lehrer und Schüler des Hauses. Sie fand Meschenows Bildnis. Auf dem kleinen Messingschild darunter stand 1884–1960. Zu spät! Zorn wallte in ihr auf, erneuter Zorn auf den alten Kusnezow und auf sich selbst. Zwei Jahre. Vor zwei Jahren hätte sie noch mit ihm sprechen können.
Sie trat wieder hinaus, ging um das Konzertgebäude herum hinüber zum Verwaltungstrakt. An der Bürotür mit der Aufschrift »Sekretariat« klopfte sie an. Eine ältere Frau saß hinter einem Schreibtisch.
»Mein Name ist Galina Petrowna Grenko.« Es dauerte zwei, drei Sekunden, dann zeigte sich im Gesicht der Frau, dass ihr der Name etwas sagte. Sie lehnte sich zurück und taxierte Galina kritisch.
»Meschenow«, fuhr Galina eilig fort, »Professor Michail Michajlowitsch Meschenow. Ich weiß, dass er verstorben ist, aber … ich bräuchte die Adresse seiner Tochter Sonja Michajlowna.«
Die Frau wich ihrem Blick aus.
»Ich weiß nicht …«, begann sie, aber Galina unterbrach sie.
»Professor Meschenow war der Lehrer und Freund meines Mannes, und ich will doch lediglich die Adresse seiner Tochter.«
»Sonja Michajlowna ist verheiratet«, lenkte die Frau ein. »Der Genosse Kopejew ist ein großer Förderer unserer Schule.«
Unruhig begann sie, Papiere zu sortieren. »Er arbeitet im Ministerium für Staatssicherheit. Ich kann Ihnen die Adresse nicht einfach geben.«
»Bitte!«, Galina trat dicht an den Schreibtisch. »Sie müssen mir helfen.«
Endlich sah die Frau sie wieder an.
»Ich kann das nicht entscheiden. Kommen Sie in zwei Stunden wieder.«
Kapitel 28
E r lief den Flur weiter zu seinem Zimmer. Die Tür war nur angelehnt. Vorsichtig schob er sie auf. Irinas Reisetasche stand auf dem Tisch. Sie hockte neben seinem Bett und durchsuchte den Nachtschrank.
Keine Sekunde war Überraschung oder Verlegenheit in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Du lebst«, sagte sie. »Gott sei Dank. Ich wollte die Unterlagen und den Laptop in Sicherheit bringen.«
Sascha stand für einen Augenblick ganz still, glaubte ihr kein Wort. Sie spürte es wohl und wich seinem Blick aus.
»Verdammt, Grenko«, zischte sie, »wir müssen jetzt hier weg. Du kannst später Bedenken gegen mich anmelden.«
Auf der Straße kam das Heulen von Sirenen näher, bläuliches Licht tanzte am Fenster vorbei.
Er nahm ihr den kleinen Koffer ab. »Komm, Domorows Fahrer wartet am Hinterausgang.«
Jetzt war sie es, die zögerte.
»Hast du Domorow den Brief überlassen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut!« Sie atmete auf. »Das Beste wird sein, wir trennen uns. Gib mir den Originalbrief. Ich bringe ihn in Sicherheit.«
Wieder schüttelte Sascha den Kopf.
»Du bist ein sturer Bock«, schimpfte sie. »Es geht hier nicht nur um deine blöde Geige. Es geht … in dem Brief wird Schermenko erwähnt, Juri Schermenko, und darum will …«
Sascha packte ihren Arm. »Woher weißt du das?«
Sie riss sich los. »Von Reger.«
Unten verstummten die Sirenen. Stimmengewirr wehte herauf. Er trat ans Fenster. Vier Milizfahrzeuge hatten die Straße zugeparkt. Er sah zwei Beamte auf den Hoteleingang zugehen.
»Du hättest dir die Suche sparen können. Der Brief ist in Deutschland«, sagte er.
Irina lachte auf. »Du lügst. Aber das ist auch schon egal.«
Sie nahm ihre Reisetasche, und zusammen liefen sie zum Hinterausgang des Hotels.
Domorows Fahrer stand mit dem Wagen vor einer Laderampe und fluchte, als sie zu zweit das Auto bestiegen, gab aber sofort Gas. Das schwere Eisentor hinter der Rampe war geöffnet.
Sie bogen immer wieder ab, durchquerten mehrere Hinterhöfe. Dann klappte der Fahrer die Außenspiegel mit einem Knopfdruck ein, und sie fuhren durch eine Gasse, die wohl nur als Fußweg gedacht war.
Sascha hatte die Orientierung bereits völlig verloren, als sie unvermutet wieder auf dem Gartenring waren.
Der Fahrer zog sein Handy aus der Tasche und telefonierte.
»Sie ist dabei!«, knurrte er ins Telefon. Es folgte eine längere Pause, in der er zuhörte. Dann steckte er das Handy schweigend ein und fuhr in Richtung Nordwesten. Sie erreichten den Stadtteil Barrikadnaja, passierten großzügig angelegte Parks und Spielplätze und den Moskauer Zoo mit seinen Schwanenteichen, die im Licht der Scheinwerfer glitzerten. Sascha nahm das alles wie aus weiter Ferne wahr. Immer wieder ließ er die Ereignisse vor dem Hotel Revue passieren.
Der Fahrer war nicht zum Schuss gekommen. Wer also hatte den Angreifer erschossen? Hatte
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