Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Sitzgruppe.
Alexander Ossipowitsch Grenko! Zum ersten Mal nach all den Jahren hörte er jemanden seinen vollen Namen sagen. Es klang so fern und gleichzeitig so vertraut, dass es ihn für einen Moment verunsicherte.
Die Frau kam herein, servierte Eiswasser und Weißwein in einem silbernen Weinkühler. Domorow lächelte. »Den müssen Sie probieren«, sagte er, »er stammt von meinem Weingut in der Ukraine, in der Nähe von Cherson.« Und dann fragte er ohne Umschweife: »Haben Sie den Brief dabei?«
Sascha zog eine Kopie aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Tisch.
Domorow ließ sich Zeit, studierte das Papier Zeile für Zeile.
Der Wein trug das Aroma großer Wälder, lag fruchtig und gleichzeitig herb auf der Zunge.
Als Witali Domorow die Kopie des Dosenetiketts endlich auf den Tisch zurücklegte, sagte er ruhig: »Eine Kopie. Mein junger Freund, Sie enttäuschen mich. Wo ist das Original?«
Sascha nickte. »Ja, eine Kopie. Aber was hätte ich davon, Ihnen eine Fälschung vorzulegen? Ich will schließlich Ihre Hilfe.«
Domorow taxierte ihn und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Meine Hilfe«, sagte er, und es klang ironisch. Dann wechselte er abrupt das Thema.
»Wie schmeckt Ihnen der Wein? Er ist wunderbar, nicht wahr?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, kam er auf das Thema zurück. »Meine Hilfe wollen Sie«, stellte er fest. »Wie haben Sie sich die vorgestellt? Oder sollte ich fragen, ich welcher Höhe?«
Sascha stutzte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. »Ich will kein Geld von Ihnen«, sagte er, und seiner Stimme war anzuhören, dass ihm der Gedanke völlig abwegig war. Dann berichtete er, was er von seiner Tante erfahren hatte, vermied es aber, sie zu erwähnen. Er sprach von den Unfällen des Onkels und der Eltern. Die jüngsten Ereignisse und Vikas Tod verschwieg er.
Witali Domorow hörte aufmerksam zu. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen.
Als Sascha geendet hatte, nahm Domorow sein Weißweinglas, stand auf und trat hinaus auf die Terrasse. Sascha folgte ihm. Unter einem überdimensionalen Sonnenschirm stand eine moderne Sitzgruppe mit blütenweißen Polstern. Sie traten an das Geländer und ließen den Blick über die Moskwa und die Stadt schweifen.
Es dämmerte bereits. Am Abendhimmel schoben sich Streifen von Lachsrot und Schwefelgelb ineinander. Wolkenkratzer reckten sich neben bunten Zwiebeltürmen, Neogotik, Klassizismus und byzantinische Baukunst standen ganz selbstverständlich nebeneinander. Moskau war seit Jahrhunderten die Schnittstelle zwischen Asien und Europa und hatte sich nie für eine Seite entschieden.
Sascha dachte an den Originalbrief, der sich unter der Sohle in seinem linken Schuh befand. Im Hotel hatte er darüber nachgedacht, ihn Irina zur Verwahrung zu geben, aber sein Misstrauen hatte gesiegt.
Er drehte sich um. Domorows Residenz, eine extravagante Villa aus Rundsäulen und Glas, musste vor nicht allzu langer Zeit auf das Dach dieses Hochhauses gebaut worden sein. Ein Bauplatz mindestens zwanzig Stockwerke über dem Boden. Es war still hier oben. Mitten in der Millionenmetropole diese Stille. Das unruhige Gewimmel tief unter ihnen erinnerte an Insekten.
Domorow betrachtete ihn aufmerksam. »In dem Brief werden die Namen Meschenow und Schermenko erwähnt. Sagen Ihnen diese Namen etwas?«
Sascha schüttelte den Kopf. »Nur das, was aus dem Brief hervorgeht. Meschenow scheint ein Kontakt aus Großvaters Zeit als Musiker zu sein. Wahrscheinlich hier in Moskau. Schermenko war wohl einer der Mithäftlinge in Workuta.«
Domorow taxierte ihn und schwieg mehrere Sekunden. Dann sagte er: »Meschenow war Professor am Tschaikowsky-Konservatorium. Er ist 1960 verstorben. Ihr Großvater war einer seiner Schüler.«
Dann wechselte er wieder das Thema. »Sagen Sie mir, warum Sie nicht von Ihrer Schwester sprechen.«
Sascha ließ sich seine Überraschung nicht anmerken und sagte ruhig: »Sie sind gut informiert.«
Domorow bewies, dass er noch viel mehr wusste.
»Sie haben viele Jahre keinen Kontakt zu ihr gehabt. Was wissen Sie über sie?«
Sascha schluckte. Nichts, müsste er jetzt antworten, aber es kam ihm nicht über die Lippen.
Domorow schien keine Antwort zu erwarten, war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
»Sie sagten, Ihre Eltern hätten damals einen Anwalt eingeschaltet und der habe sich hier an das Ministerium für Innere Angelegenheiten gewandt. Ist das richtig?«
»Ja. Ich kann Ihnen das Schreiben zeigen.«
»Was haben
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