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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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gebetsmühlenartig: »Gegen die da oben kommst du nicht an, Galina. Fahr nicht.« Sie verstieg sich sogar in die These, dass der alte Kusnezow es nicht aus Bequemlichkeit übersehen, sondern das Schicksal selbst eingegriffen habe, um Galina all die Jahre vor dieser Dummheit, die sie jetzt begehen wollte, zu bewahren.
    Galina lächelte, drückte die Alte an sich und neckte sie. Das Wort »frei« tanzte in ihrem Kopf durch tausend offene Türen.
    Sie konnte Briefe schreiben.
    Der erste ging an das Tschaikowsky-Konservatorium. Sie erkundigte sich darin nach Meschenow. Einen weiteren Brief schickte sie auf gut Glück an Editas alte Adresse – die Freundin aus Moskauer Zeiten. Das Konservatorium antwortete nicht, aber nach sechs Wochen kam ein Brief von Edita. »Ich weine vor Glück«, schrieb sie, und dass sie kaum erwarten könne, Galina und die Jungen wiederzusehen.
    Im April verabschiedete Galina sich von Lydia und ihren Söhnen, die, inzwischen fünfzehn- und siebzehnjährig, im Wohnungsbau arbeiteten. In spätestens einem Monat wollte sie zurück sein. Dieses Mal bestieg sie den Zug ohne jedes Zögern. Dieses Mal bestieg sie ihn mit dem sicheren Gefühl einer Bürgerin.
    Die Reise dauerte zehn Tage.
    Als der Zug am frühen Abend in den Jaroslawler Bahnhof einfuhr, erkannte sie, dass auch hier die Zeit nicht stehengeblieben war. An den Wänden der Bahnhofshalle waren die Gemälde von Korowin verschwunden. Es waren Landschaften und Alltagsszenen gewesen, die sie immer mit großer Bewunderung betrachtet hatte. Auch der Platz der drei Bahnhöfe hatte sich verändert.
    In der Metrostation Komsomolskaja kaufte sie eine Fahrkarte und fuhr die steile, endlose Rolltreppe hinunter. Von neuem beeindruckte sie das stuckverzierte Gewölbe, das auf achteckigen Marmorsäulen ruhte. Von den Decken hingen imposante Kronleuchter, unter denen die Menschenmassen den Bahnsteigen entgegeneilten. Die Metro raste durch die Tunnel. In den Waggons standen die Passagiere stumm im tosenden Lärm der Fahrgeräusche.
    Galina musste drei Mal umsteigen, weil sie sich nicht zurechtfand. Endlich erreichte sie den westlichen Stadtrand, fand den grauen Mietsblock, in dem Edita immer noch zu Hause war. Die Haustür stand offen, und sie ging hinauf in den zweiten Stock. Im Flur der Gemeinschaftswohnung hing das Telefon an der Wand, von dem aus sie vor fast vierzehn Jahren mit Meschenow gesprochen hatte. Vorsichtig klopfte sie an die Zimmertür. Mehrere Sekunden lang standen sie sich schweigend gegenüber. Dann zog Edita sie herein und umarmte sie stürmisch.
    Sie saßen bis tief in die Nacht am Küchentisch. Immer noch stand dort dieses Sofa, auf dem Galina damals übernachtet hatte. Edita arbeitete weiterhin am Mchat-Theater als Schneiderin und Garderobiere. Sie erzählten Stunde um Stunde, sparten aber lange jenen verhängnisvollen Mai 1948 aus, konzentrierten sich ganz auf die Lebenswege danach. Es war bereits weit nach Mitternacht, als Edita endlich sagte: »Drei Mal war ich damals an eurer Wohnung, aber niemand öffnete. Einmal habe ich Meschenow vor dem Konservatorium abgefangen, aber auch er wusste nichts. Dann gab es diese große Aufregung im Theater, weil das über Ilja in der Zeitung stand. Alle sagten: Edita, besser, du hältst dich da raus. Ich dachte …« Edita zog die Beine an und schien sich in der Ecke des Sofas zu verkriechen. »Es tut mir so leid, Galina, aber ich hatte Angst.«
    Galina strich ihr über die Wange: »Du hättest nichts tun können, Edita. Und …«, beschämt senkte sie den Kopf. »Selbst ich habe lange geglaubt, Ilja sei ins Ausland geflohen.«
    Dann erzählte sie von Iljas Brief und von Domorow. Edita hatte eine große Familie und schon immer gute »Verbindungen« gehabt. Sie hatte Lebensmittel organisiert, an die schwer ranzukommen war, und wenn eine kleine Feier angestanden hatte, war sie es gewesen, die für den Wodka gesorgt hatte.
    Vorsichtig fragte sie die Freundin: »Dieser Domorow ist ein Wor w sakone. Meinst du, man könnte ihn ausfindig machen?«
    Edita nickte. »Ich kann mich mal umhören.«
    Am nächsten Tag ging Galina durch die Straßen Moskaus zum Tschaikowsky-Konservatorium. In den breiten Alleen fiel das Sonnenlicht durch junges Blattgrün. Sie war zuversichtlich. Auf dem Platz vor dem großen Eingang gab es jetzt ein Tschaikowsky-Denkmal. Er thronte auf einem hohen Sockel und schaute mit einer gewissen Strenge in die Ferne.
    Ganz selbstverständlich betrat sie die Eingangshalle. Zur Linken

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