Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
anders. Sie spürte, während sie eng umschlungen standen, dieses letzte Mal. Dieses Zeichen des endgültigen Abschieds, wie man sie auf Bahnhöfen in hilflosen Gesten entdeckt und auf Friedhöfen in den Gesichtern der Zurückgebliebenen sieht.
»Ich bin so einsam«, sagte er, »ich bin so unglaublich einsam neben dir und diesem toten Mann.«
Sie sprachen die ganze Nacht.
Er sagte: »Du schickst mich, einen Toten zurückzuholen. Das kann ich nicht. Ich lebe nur noch neben euch her, Galina. Mein Heimweh ist an manchen Tagen körperlicher Schmerz. Ich ertrage das nicht mehr.«
Sie weinten.
Es war ein klarer Maimorgen im Jahre 1958. Die Farben des Frühlings zeigten sich unangemessen fröhlich, als Aivars alles zurückließ.
Er bestieg einen Zug in Richtung Moskau. Nicht um Galinas Bitte nachzukommen, sondern um weiterzureisen. Nach Lettland. Nach Hause.
Der Zug war lange fort, als Galina, Lydia und die Kinder immer noch auf dem Bahnsteig standen und ihm nachblickten. Jahre später, als sie zum ersten Mal vom »Fluch der Geige« sprach, meinte sie, in diesem Abschied die endgültige Weggabelung zu erkennen.
Kapitel 25
P ünktlich um achtzehn Uhr hielt ein schwarzer Volvo-Geländewagen vor dem Hotel. Der Fahrer, ein Mann um die dreißig, der trotz der Hitze Schlips und ein Leinensakko trug, kam zielstrebig auf sie zu.
»Folgen Sie mir.«
Sascha und Irina standen auf. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nur Grenko«, sagte er bestimmt.
Irina schnaubte verächtlich.
»Rufen Sie Domorow an und sagen Sie ihm, Grenko kommt nur in meiner Begleitung.«
Der Fahrer ignorierte sie.
»Nur Sie«, wandte er sich an Sascha, drehte sich um und ging zum Wagen.
Irina stampfte auf und wollte weiter protestieren, ließ sich dann aber resigniert in einen der Sessel fallen, als Sascha ihr signalisierte, dass das schon in Ordnung sei.
»Durak«, warf sie ihm hinterher, »Dummkopf.«
Die Tür des Wagens schloss sich mit dem satten Ton, den er von den gepanzerten Fahrzeugen kannte, die Security Reger im Personenschutz einsetzte.
Sie fuhren in Richtung Norden, wechselten immer wieder in kleine Stichstraßen, die wie Speichen eines Rads in die großen Ringstraßen eingewoben waren. Menschenmassen quollen aus den Metrostationen, zielstrebig und mit ernsten Mienen drängten sie auf die Gehwege. Der Feierabend läutete sich ein und schien die Pulsfrequenz der Stadt noch zu erhöhen.
Kurz nachdem sie die Moskwa überquert hatten, fuhren sie in die Tiefgarage eines mehrstöckigen Gebäudes, das von außen einen unscheinbaren Eindruck machte. Als sie ausgestiegen waren, verlangte der Fahrer: »Drehen Sie sich um. Hände auf das Autodach und Beine auseinander.«
Saschas Blick wanderte zwischen Fahrstuhl und Tiefgarageneinfahrt hin und her. In Gedanken überschlug er, welcher Fluchtweg der bessere wäre.
»Ich muss sicher sein, dass Sie nicht bewaffnet sind«, erklärte der Mann fast entschuldigend.
Sascha entschied sich, der Aufforderung nachzukommen. Als der Mann ihn abgetastet hatte, gingen sie nicht zu dem Fahrstuhl, den Sascha ins Visier genommen hatte, sondern zu einem Aufzug, der versteckt hinter einer Mauer lag. Der Fahrer öffnete ihn mit einer Codekarte. In der Kabine gab es keine Knöpfe für die jeweiligen Etagen, sondern ein Tastenfeld, in das ein Zahlencode eingegeben wurde.
Oben angekommen, schob sich die Fahrstuhltür auseinander, und sie betraten eine Art Eingangshalle. Auf dem dunklen Parkett lagen Orientteppiche, Säulen stützten die stuckverzierte Zimmerdecke. Eine junge Frau kam auf sie zu und sagte in ihr Headset: »Sie sind da.« Es dauerte einige Sekunden, bis ein kurzes Summen zu hören war. Die Frau öffnete eine Seitentür und führte ihn in einen Flur. Vor einem zweiflügeligen Eingang blieben sie stehen, und wieder ertönte ein Summen.
Als Sascha das große Zimmer mit Wintergarten betrat, blieb die Frau zurück. Schwere dunkelbraune Ledermöbel, blaugraue, handbemalte japanische Seidentapeten an den Wänden und eine Terrasse mit Blick über die Moskwa und die dahinterliegende Stadt. Witali Domorow saß mitten im Zimmer hinter einem schweren Mahagonischreibtisch.
Er musste um die siebzig Jahre alt sein, war auf diese asketisch sehnige Art, wie man sie bei Marathonläufern sieht, geradezu dürr. Unter einem vollen grauen Haarschopf blickten braune Augen aufmerksam durch eine randlose Brille.
»Bitte kommen Sie, Alexander Ossipowitsch Grenko«, sagte er, stand auf und führte Sascha zu einer
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