Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Ihre Eltern noch unternommen?«
»Nichts! Wenige Tage später waren sie tot.«
»Und Ihre Schwester? An wen hat sie sich gewandt?«
»Auch ihr Anwalt hat eine Kopie des Briefes an das Ministerium geschickt und die Herausgabe der Geige an die rechtmäßige Besitzerin gefordert.«
Sie lehnten an dem Geländer. In der Ferne legte sich das Abendrot wie ein Passepartout um Türme und Dächer. Unten flammten erste Lichter auf, Straßenlaternen malten gleichmäßige Bogen und Geraden durch die Stadt. Scheinwerfer strahlten hie und da imposante Bauwerke an. Als der Himmel endgültig Nacht zeigte, lag Moskau unter ihnen wie ein aus Leuchtfäden gewebter Teppich.
Sascha berichtete, was in den letzten Tagen passiert war. Als er geendet hatte, ging er in die Offensive.
»Was hat Ihr Vater damals von Kurasch erfahren?«
Es kleines Zucken im Gesicht seines Gesprächspartners, dann ein Lächeln. Und wieder bewies Domorow, dass er umfassend informiert war.
»Wie ich sehe, hat Ihre Tante nichts ausgelassen.« Dann schüttelte er den Kopf. »Hören Sie, Grenko, Ihr Großvater hat meinem Vater das Leben gerettet, und der hat alles getan, um die Geige zu finden. Sie war nicht auffindbar.«
Domorow deutete auf die leeren Weingläser in ihren Händen. »Kommen Sie, wir gehen wieder hinein.«
Im Wintergarten hantierte er mit der Weinflasche und neuen Gläsern.
»Nun, Alexander Ossipowitsch, ich werde Ihnen helfen.« Er reichte Sascha ein neues Glas Wein. »Aber ich muss eine Bedingung stellen.«
Er nahm genüsslich einen Schluck und legte eine Hand auf Saschas Schulter. »Ich möchte den Brief, mein Freund. Das Original!«
Sascha schwieg, suchte in seinem Gedächtnis nach der Stelle in den Zeilen seines Großvaters, die er offensichtlich nicht entschlüsselt hatte. Warum war der Brief für Witali Domorow von Bedeutung?
Und dann sagte Domorow etwas, das ihn vollends verunsicherte. Ganz ruhig, ganz freundlich blickte er ihn an. »Mein junger Freund, Sie sind hier in Moskau, und an Ihrer Seite steht lediglich Irina Bukaskina. Eine kluge Frau, keine Frage, aber sie verfolgt sicher eigene Interessen. Sie haben sich auf gefährliches Terrain begeben, und in Deutschland werden Sie gesucht, nicht wahr?«
Immer noch lag seine Hand auf Saschas Schulter. »Ich kann einiges für Sie tun. Hier … und in Deutschland.«
Sascha dachte an den Mann mit dem Buch.
»Sie wissen, wer meine Schwester getötet hat?«
Domorow zuckte mit den Schultern.
»Sagen wir, ich kann ihn finden. Die deutsche Polizei niemals.«
Plötzlich regte sich etwas in Sascha. Eine Art Aufbegehren.
»Und die Geige?«, fragte er, während sich in seinem Kopf die Gedanken neu sortierten, wie Dominosteine, die all die Jahre falsch aneinandergereiht waren.
Die Geige war wichtig. Wichtig für sein eigenes Leben. Nicht nur, weil er in Deutschland unter Verdacht stand, sondern weil mit ihr alles begonnen hatte. Er musste die Geschichte seiner Familie verstehen, dann könnte er die Erklärung für all jene Ereignisse finden, die ihm immer so willkürlich erschienen waren.
Domorows antwortete nicht, sagte stattdessen wie nebenbei: »Mein Fahrer wird Sie in Ihr Hotel bringen, und Sie geben ihm den Brief!« Mit der linken Hand machte er eine allumfassende Geste. »Im Gegenzug werde ich Ihnen helfen.«
Sascha setzte alles auf eine Karte und schüttelte den Kopf. »Ich habe das Original in Deutschland gelassen«, log er routiniert. »Sie bekommen es, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Ich will den Mörder meiner Schwester und die Geige.«
Domorows Augen wurden hinter seiner Brille schmal. Es vergingen mehrere Sekunden. Die Stille sammelte sich, lag wie eine Drohung zwischen ihnen. Endlich nickte der graue Kopf.
»Nun gut. Hier in Russland sagt man: ›Ist dein Wort ohne Wert, ist es dein Leben auch.‹« Ganz freundlich sagte er das. Ganz selbstverständlich.
Auf der Fahrt zurück zum Hotel saß Sascha schweigend neben dem Fahrer, versuchte die Ereignisse und Fakten zu ordnen. Beging er gerade einen Fehler? Und Irina? Was hatte Domorow gemeint, als er sagte, sie verfolge eigene Ziele? Er würde sie heute noch zur Rede stellen und sich gegebenenfalls von ihr trennen.
Der Wagen hielt unmittelbar vor dem Hotel. Immer noch in Gedanken vertieft, stieg er aus und ging neben dem Fahrer auf das Foyer zu. Es war weit nach Mitternacht, aber Moskau war ruhelos, kannte keinen Schlaf.
Warum er sich umsah, konnte er später kaum erklären. Eine Angewohnheit. Die erlernten Reflexe
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