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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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nichts mehr. Ilja Wassiljewitsch Grenko ist nur noch ein Phantom.
    Morgen. Morgen würde er in die Gewehre rennen.

Kapitel 27
    A m 1. Februar 1962 ging Galina wie an jedem Ersten eines Monats in die Kommandantur. Es war ein klarer, kalter Tag. Eine wenige Zentimeter hohe Schneedecke knirschte unter ihren Füßen.
    In der Eingangshalle der Kommandantur stellte sie sich in die Schlange der Wartenden. Normalerweise legte sie ihre Papiere vor, und der alte Beamte Kusnezow ging eine Liste durch, machte sein Häkchen, und sie konnte gehen. Seit Jahren war es dieser mürrische dicke Mann gewesen, aber heute saß auf seinem Platz ein Fremder, und die schlichte Prozedur dauerte deutlich länger. Sie hörte, wie der Neue einen Mann anschnauzte: »Nein! Ihre Frau hat gefälligst selber zu erscheinen, das ist die Vorschrift!«
    In der Warteschlange rumorte es. Auch Galina hatte die Papiere von Lydia dabei, die der alte Kusnezow immer ohne Einwände auf seiner Liste abgehakt hatte. Jetzt schob sie sie in ihre Manteltasche. Lydia würde selbst kommen müssen.
    Als sie ihre Papiere auf den Schreibtisch legte, begutachtete der Mann sie ausgiebig, ging die Liste durch, blätterte, nahm ein weiteres Schreiben zur Hand, und sein Blick wanderte suchend und vergleichend hin und her. Dann schüttelte er den Kopf und ging mit ihren Ausweispapieren und den Listen in ein Hinterzimmer.
    Galina schlug das Herz bis zum Hals. Sie überlegte fieberhaft. Was mochte mit ihren Papieren nicht stimmen? Oder hatte jemand sie denunziert? Hatte sie irgendetwas Unüberlegtes gesagt? Sie spürte, wie ihre Schultern sich versteiften, ihr Atem schneller ging.
    Der Mann kam zurück und musterte sie eingehend. »Sie wurden im Mai 1948 verbannt. Ist das richtig?«, fragte er in befehlsgewohntem Ton.
    Galina nickte stumm, spürte das Zittern in ihren Händen.
    Er schüttelte den Kopf und sah sie fast mitleidig an.
    »Ja, können Sie denn nicht rechnen? Ihre zehn Jahre sind doch längst um.«
    Ihr wurden die Knie weich. Sie erinnerte sich an jenen Morgen, als man ihr das Schreiben entgegengehalten hatte.
    »Karaganda«, hatte sie gelesen, »Entzug der Bürgerrechte«, aber dann hatte der Mann das Papier wieder an sich genommen. Sie hatte es nie wirklich lesen können.
    Der Beamte drückte einen Stempel quer über ihr Ausweispapier. »Bürgerin«, stand da. Ein Datumsstempel folgte, den er mit fast kindlicher Handschrift signierte. Er zeigte auf das andere Ende der Halle. »Sie müssen sich neue Papiere besorgen. Gehen Sie den Gang entlang«, und jetzt schwang Verachtung in seiner Stimme ob dieser ungeheuerlichen Dummheit.
    Wie taub saß sie in dem schmalen Büro einer uniformierten Frau gegenüber, die mit unerträglicher Langsamkeit etliche Formulare ausfüllte, während Galina ihre Augen nicht von dem Stempel lösen konnte, von dem dicken, blauen, leicht verschmierten Wort: »Bürgerin«. Erst als sie die Kommandantur verlassen hatte und auf dem Weg zur Fabrik war, sammelten sich die drei Jahre und acht Monate, die sie eigentlich schon frei war, in ihrer Brust und wurden flammender Zorn. Ein Zorn auf den stoischen alten Kusnezow, der ihre Meldung mechanisch abgehakt hatte, ohne auch nur einmal in die Unterlagen zu sehen. Aber vor allem war sie zornig auf sich selbst, weil sie ganz selbstverständlich von lebenslanger Verbannung ausgegangen war. Weil sie sich schon vor Jahren abgefunden hatte.
    Kollegen und Freunde, deren Verbannung nach zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren geendet hatte, waren fortgegangen oder lebten als freie Bürger in der Stadt, aber es hatte immer geheißen, dass die Familie eines Landesverräters lebenslang verbannt war.
    Als sie wieder an ihrer Nähmaschine saß und schmale Stehkragen an Hemden nähte, kam sie langsam zur Ruhe. Sie dachte an Aivars, der sich nie wieder gemeldet hatte. Es war ihr Fuß, der als Erstes innehielt, das mechanische Treten des Pedals verweigerte. Sie starrte die Nadel an, die jetzt wartend über dem Stoff schwebte. Er war im Mai 1958 fortgegangen. Vor drei Jahren und acht Monaten.
    Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Die Kollegin warf ein weiteres Hemd auf den Stapel neben ihrer Nähmaschine und flüsterte: »Galina, was träumst du? Du kommst nicht nach.«
    Als ihr Fuß den Arbeitstakt wiederaufnahm, konnte sie nur noch eines denken. Moskau! Sie würde nach Moskau reisen. Sie würde Iljas Geige finden und seinen Namen reinwaschen.
    Am Abend jammerte und bekreuzigte Lydia sich unentwegt, sagte

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