Der Geisterfahrer
herauszukriegen, ob es noch welche gebe? Er würde sich einmal bei der Gemeinde erkundigen. Das habe sie abgeklärt, sagte Natalie, die gebe eben keine Auskunft, wenn man nicht selbst zur Familie gehöre. Bei der jüdischen Gemeinde, präzisierte Roschewski. Ob er glaube, da bekäme er Auskunft?
»Ich glaube schon«, sagte Roschewski, »ich gehöre selbst dazu.«
»Oh, Entschuldigung, daran habe ich gar nicht gedacht«, sagte Natalie etwas verlegen.
Roschewski lächelte. »Das macht gar nichts, schließlich sieht man Ihnen die Lehrerin auch nicht an.« Falls er etwas herausfinde, fuhr er fort, ob sie dann daran interessiert sei.
»Ja«, sagte Natalie, »auf alle Fälle.«
»Obwohl Sie mit der Sache nichts zu tun haben?« Seine Augenbrauen hoben sich, und sein Blick bekam etwas Prüfendes.
Sie habe im Grunde, sagte Natalie, vom ersten Moment an etwas damit zu tun gehabt, schließlich habe sie die Rechnung gefunden, und er solle sie anrufen, wenn er etwas Neues wisse.
Als sie zu Hause über die Begegnung mit dem Buchhalter nachdachte und sich nochmals alles vergegenwärtigte, was sie über das Haus an der Löwenstraße und über die Familie Feyn erfahren hatte, kam ihr plötzlich etwas in den Sinn. Der Wechsel, dachte sie, warum gibt es ausgerechnet im Erdgeschoss dieses Hauses am meisten Wechsel?
Am nächsten Samstagmorgen fuhr sie zum Bahnhof Wiedikon, bog in die Gerhardstraße ein und sah sofort den Möbelwagen vor der Nummer 6. Die Fenster der Parterrewohnung standen offen, und gerade wurde unter der Anweisung einer Frau von zwei Trägern ein Klavier die paar Treppenstufen heruntergetragen. Als das Instrument mit einem dumpfen Aufklang der tiefen Saiten im Wagen verstaut war, trat Natalie zur Frau und fragte, ob die Wohnung, aus der sie wegziehe, schon vermietet sei. Ja, sagte die Frau, die sei weg. Schade, sagte Natalie, es sei sicher die Parterrewohnung, und die sehe schön aus mit ihren großen Fenstern. Trotzdem, sagte die Frau, würde sie ihr diese
nicht empfehlen und habe das auch allen gesagt, die sie angeschaut hätten. »Wegen des Lärms?«, fragte Natalie.
»Nein«, sagte die Frau, »es spukt, aber das glaubt einem ja niemand.« Auch sie habe es ihrem Vorgänger nicht geglaubt, bis sie es selbst erlebt habe.
Sie könne sich das gut vorstellen, sagte Natalie.
So etwas sage sich leicht, sagte die Frau, zu leicht. Oder ob sie sich wirklich vorstellen könne, wie es sei, wenn es nachts immer wieder huste in der Wohnung. Das sei schon übel genug, aber eines Nachts habe sie ein seltsames Geräusch aus dem Zimmer mit den großen Fenstern gehört, sei hingegangen und habe die Umrisse einer Nähmaschine gesehen, die mit dem Fuß angetrieben werde, aber keinen Fuß, und das Husten sei von ganz nah gekommen. »Ist da jemand?«, habe sie gefragt, und dann –
Nun kamen die Träger mit einem Schrank, und einer der beiden sagte zur Frau, sie würden ihn nur zerlegen, falls er am andern Ort nicht zur Tür hineingehe, es sei praktischer so.
»Und dann?«, fragte Natalie.
Die Frau streifte einen Ärmel zurück und zeigte Natalie ihren Unterarm. »Sehen Sie? Ich kriege Gänsehaut vom bloßen Erzählen … Dann? Ach, das werden Sie nicht glauben.«
»Ich glaube Ihnen jedes Wort«, sagte Natalie.
Die Frau schaute sie zweifelnd an und fuhr dann fort: »Also gut. Dann hörte ich eine Stimme, die sagte, die Anzüge müssten noch fertig werden und ich soll zu Bett gehen. Aber das Schlimmste: sie hat mich bei meinem Namen genannt!«
»Sie heißen Lea?«, fragte Natalie.
Nun setzte sich die Frau auf die Rampe des Möbelwagens. »Mir wird halb schlecht«, sagte sie, »was wissen Sie von der Geschichte?«
Natalie erzählte es ihr am nächsten Tag im selben Café, in dem sie den Buchhalter getroffen hatte, und die Frau, eine Musikerin, war ebenso erschreckt wie erleichtert darüber, dass sie nicht als Einzige vom posthumen Wirken des alten Schneiders betroffen war.
Drei Tage später saß Natalie erneut im Café, und der Kellner nickte ihr schon zu und fragte, ob sie einen Schwarztee wolle. Sie bestellte einen Schwarztee und ein Schweppes. Roschewski kam ein paar Minuten später.
»Schön, dass Sie gleich Zeit hatten«, sagte er, »ich habe interessante Neuigkeiten.«
»Sagen Sie bloß nicht, Sie hätten Rebecca Feyn gefunden.«
»Eins nach dem andern«, sagte er und begann zu berichten.
Die jüdische Gemeinde, sagte er, sei nicht sehr groß, da kenne man sich noch, und wenn man jemanden suche, der hier
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