Der Geisterfahrer
Ausbildung erinnert, als es darum gegangen war, die Geschichte ihres Schulhauses zu studieren. Im 1. Stock war das Baugeschichtliche Archiv untergebracht, und hier konnte man nach jeder beliebigen Straße in Zürich fragen und hatte gute Aussicht, ein altes Foto davon zu finden. Welche Hausnummer sie denn suche, fragte der Archivar lächelnd, und zu Natalies Erstaunen gab es drei Kartonbehälter mit alten Fotos von der Löwenstraße. Bald hatte sie zwei Bilder vor sich, auf denen die Fassade der Nummer 40 zu sehen war, und es war gut zu erkennen, dass sich im Parterre ein Geschäft befand, auf dem einen Bild waren Sonnenstoren ausgefahren, aber Namen konnte sie keinen lesen, im Gegensatz zur Aufschrift über dem Nachbarladen, in dem mit Waffen und Munition gehandelt wurde. Die Schaufensterfront zog sich übrigens bis in den ersten Stock, und etwas später fand sie von dieser Etage eine Innenaufnahme, auf welcher der großzügige Saal einer Tanzschule zu sehen war. Sie ließ sich diese drei Aufnahmen fotokopieren, und als der Archivar fragte, ob sie das Gesuchte gefunden habe, sagte sie, sie hätte gerne gewusst, was für ein Geschäft damals im Parterre gewesen sei. Das könne sie im 3. Stock nachschauen, entgegnete
der Archivar, dort seien sämtliche Adressbücher der Stadt vorhanden, nach Jahrgängen geordnet, und unter den Hausnummern der verschiedenen Straßen seien die jeweiligen Mieter und Bewohner aufgeführt.
Als Natalie am Abend wieder an ihrem Schreibtisch saß, war sie um einige Erkenntnisse reicher geworden. Sie wusste, dass sie aus Gründen des Datenschutzes bei der Einwohnerkontrolle keine Nachforschungen über Niederlassung und Wegzug von Personen einholen durfte, die nicht zu ihrer Familie gehörten. Sie wusste aber auch, dass die alten Adressbücher Jahr für Jahr Auskunft darüber gaben, wer in all den Häusern dieser Stadt gewohnt hatte und wer ihre Besitzer waren. So hatte sie herausgefunden, dass das Kleiderhaus Seidenbaum 1939 bereits aus der Löwenstraße 40 verschwunden war und durch Schwaller & Cie., Damenkonfektion, abgelöst wurde. In der Folge waren dann mehrere Kleidergeschäfte zur Miete, und das änderte sich auch nicht, als das Haus 1954 abgetragen und durch den heutigen Bau ersetzt wurde. Isaac Feyn tauchte 1933 an der Gerhardstraße 6 auf, zusammen mit Lea Feyn. Diese wurde ab 1940 als Lea Feyn, Wwe. geführt, während Isaac Feyn nicht mehr vorhanden war. 1942 kam Feyn Rebecca dazu, Büroangestellte. 1946 gab es dann weder Lea noch Rebecca mehr an der Gerhardstraße. Sie hatte sich auch alle andern Bewohnerinnen und Bewohner dieser Liegenschaft in den Jahren 1933 bis 1946 notiert, war zur Gerhardstraße gefahren und hatte die Namen auf den Täfelchen angeschaut, aber selbstverständlich war kein einziger der früheren Mieter mehr darunter. Einen jungen Mann, welcher die Tür gerade öffnete, als sie davorstand,
fragte sie, wem das Haus gehöre, und erfuhr, dass die Besitzerin die Pensionskasse einer Versicherung sei. Warum sie das wissen wolle, fragte der Mann, und Natalie sagte, sie suche eine Wohnung im Quartier. Er wohne zuoberst in einer WG, aber am meisten Wechsel gebe es unten, sagte er. Das erstaunte Natalie, denn die Parterrewohnung sah von außen schön aus, sie hatte etwas größere Fenster als die Wohnungen der oberen Stockwerke, und es war durchaus vorstellbar, dass hier einmal ein Schneider-Atelier bestanden hatte.
Das war alles. Natalie musste sich eingestehen, dass es sinnlos war, mit diesen wenigen Anhaltspunkten einer so weit zurückliegenden Geschichte nachgehen zu wollen. Der Schneider und Aussteller der Rechnung, Isaac Feyn, war offensichtlich spätestens im Jahre 1939 gestorben. Rebecca konnte eine Verwandte Isaacs sein, die später zu Lea zog, oder eine Tochter der beiden, die volljährig geworden war, denn Kinder wurden in den Adressbüchern nicht aufgeführt. Ihrer beider Spuren verloren sich jedoch 1946.
Sie beschloss, ihre Nachforschungen an dieser Stelle abzuschließen. Es war gut möglich, dass Rebecca Feyn, sollte sie die Tochter des Ehepaars sein, noch am Leben war, aber wo und unter welchem Namen sollte sie diese Frau suchen, und selbst wenn sie mehr über Isaac Feyn herausbekommen würde, wäre damit noch lange nicht erklärt, wie seine Rechnung in ihr Mantelfutter gelangt war. Sie heftete die Fotos von der Löwenstraße und die Notizen aus dem Adressbuch mit einer Büroklammer zusammen und legte alles in die Sichtmappe mit dem Briefumschlag. Dann
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