Der Geisterfahrer
klingelte das Telefon.
Ein Herr Roschewski entschuldigte sich für die Störung, stellte sich als Buchhalter der Firma »Best of« vor und fragte sie, ob es stimme, dass bei ihr eine alte Rechnung aufgetaucht sei. Als sie dies bejahte, fragte er, ob er sie einmal treffen könne, er möchte ihr dazu etwas erzählen. Natalie überlegte sich einen Moment, ob sie sich hier auf irgendetwas einlasse, das sie bereuen würde, aber dann siegte ihre Neugier, und sie sagte zu. Als Treffpunkt schlug sie eines der Cafés in der Halle des Hauptbahnhofs vor, die stets belebt waren, machte mit ihm für den nächsten Tag um 18 Uhr ab und sagte, sie würde einen grünen Armani-Mantel tragen mit einer Handtasche aus dunkelviolettem Leder. Er wollte sich durch eine »Best of«-Plastiktasche zu erkennen geben und bat sie im Übrigen darum, vorläufig niemandem von ihrem Treffen zu berichten, da ihm derartige Kontaktnahmen eigentlich nicht erlaubt seien. Natalie versicherte ihn ihrer Diskretion, war zwar etwas beunruhigt über diese Heimlichtuerei, hatte aber trotzdem nicht das Gefühl, mit diesem Rendez-vous ein Risiko einzugehen.
Kurz vor sechs Uhr setzte sie sich in der Bahnhofhalle, wo auch in der kälteren Jahreszeit eine angenehme Temperatur herrschte, an den äußersten Tisch einer Reihe, die vor dem Café gestuhlt war; sie hatte schon eine Weile nicht mehr auf einen Mann gewartet, mit dem sie verabredet war, und schaute sogar noch einmal kurz in den Spiegel, den sie aus ihrer Handtasche nahm. »Frau Schaub?«, fragte ein dünner Mann mit einer »Best of«-Tragtasche in der Hand und zog den zweiten Stuhl etwas zurück. Zu ihrem Ärger errötete Natalie, als sie »Jawohl« sagte und ihm
die Hand reichte. »Roschewski«, sagte er, »wir haben telefoniert«, und setzte sich zu ihr.
Sie trank schon einen Schwarztee, und er bestellte sich nun ein Schweppes. Nach dem gestrigen Telefongespräch hatte sie sich ihn etwas älter vorgestellt, auch überraschte sie, dass ihm seine Haare bis auf den Kragen fielen. Er kam ohne Umschweife zur Sache und bat sie, ihm nochmals zu erzählen, wie sie zu der Rechnung gekommen sei, da er die Geschichte bloß vom Filialleiter gehört habe. Natalie erzählte kurz, was ihr passiert war, fasste auch ihre Recherchen im Stadtarchiv zusammen und zog zuletzt den Umschlag aus der Tasche. Roschewski schaute die Rechnung an, schüttelte den Kopf und sagte darauf, dass er die Buchhaltung der Firma »Best of« vor 5 Jahren übernommen habe, und dass es seither jedes Jahr ein Problem gebe, dem er nicht auf die Sprünge komme. Was denn für ein Problem, fragte Natalie. Jedes Mal sei am Schluss ein Fehlbetrag in der Abrechnung, ein Fehlbetrag zuungunsten der Firma, und sie solle einmal raten, wie hoch der sei. Natalie wusste nicht, was sie schätzen sollte, und sagte, sie habe keine Ahnung.
»2220 Franken«, sagte Roschewski, und dieser Fehler mache ihn halb verrückt, weil er sich seine Herkunft nicht erklären könne. Natürlich gebe es Möglichkeiten, einen solchen Betrag, der im Bezug auf das Ganze relativ unerheblich sei zu kaschieren, bzw. so darzustellen, dass er sich sozusagen unauffällig verhalte, die ganze Buchhalterei sei ja, wie sie wahrscheinlich wisse, ein Stück weit eine Sache der Darstellung, aber ihm käme dieser jährliche Fehlbetrag, auf den er mittlerweile schon warte, wie eine Beleidigung
vor. Er mache auch noch Buchhaltungen für andere Firmen, arbeite nun schon zehn Jahre in dem Beruf, aber so etwas sei ihm sonst noch nie passiert.
Das sei ihr unheimlich, sagte Natalie, es fehle nur noch, dass der alte Feyn plötzlich bei ihr im Treppenhaus stehe, dabei hätte sie mit der Sache überhaupt nichts zu tun.
Wenn, dann würde er wohl eher bei ihnen im Treppenhaus stehen, sagte Roschewski, obwohl auch sie nichts damit zu tun hätten, außer dass ihr Geschäft an derselben Hausnummer domiziliert sei, aber es sei ja nicht die Rechtsnachfolgerin des Kleiderhauses Seidenbaum, jedenfalls hätte er davon noch nie etwas gehört.
Natalie sagte, sie habe eigentlich beschlossen, ihre Nachforschungen einzustellen und die Sache auf sich beruhen zu lassen, oder ob er meine, man sollte noch etwas tun. Roschewskis Antwort überraschte sie. Er sei der Ansicht, sagte er, man sollte dem alten Schneider seine Leinenanzüge bezahlen, und er werde dies seiner Firma vorschlagen. Aber wie denn, und wem denn?, fragte Natalie. Am besten seinen Nachkommen, meinte Roschewski. Ob er denn eine Möglichkeit sehe
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