Der Geisterfahrer
wieder zurück war, und er murmelte bloß, er hätte doch weniger Lust zum Rennen gehabt, als er gemeint habe.
Heute habe sie von einer Nachbarin gehört, sagte ihm Olivia beim Nachtessen, dass das ganze Verkaufspersonal im Bahnhofladen ausgewechselt worden sei, es arbeiteten jetzt nur noch Schweizer dort.
»Gut für die japanische Kundschaft«, sagte Charles und
lachte. Jetzt wusste er auch, weshalb er Dragan heute zweimal gesehen hatte; offensichtlich war er entlassen worden, und es sah nicht so aus, als hätte er wieder Arbeit gefunden.
Rusterholz schlief schlecht diese Nacht. Zwar war die ganze Belegschaft ersetzt worden, aber dennoch war es möglich, eine direkte Linie von ihm zur Entlassung des jungen Verkäufers zu ziehen. An diese Folge hatte er überhaupt nicht gedacht, als er sich für die Japanerin einsetzte. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt, das wusste er, war nicht günstig, und sie war noch weniger günstig, wenn man einen slawischen Namen trug. Kürzlich hatte im Fernsehen ein Schulabgänger mit ausgezeichneten Zeugnissen erzählt, wie er sich telefonisch auf eine ausgeschriebene Lehrstelle hin gemeldet hatte, aber als er seinen Namen sagte, der auf čić endete, bekam er den Bescheid, die Stelle sei schon vergeben. Etwas später meldete er sich nochmals mit veränderter Stimme und einem Schweizer Namen, Mörgeli oder Ötterli oder Lutz, und wurde sofort zu einem Gespräch eingeladen. So war die Stimmung im Lande, Dragan würde es also nicht leicht haben, und es konnte gar nicht anders sein, als dass er einen Groll auf ihn hatte. Dass er selbst schuld war mit seinem Betrugsversuch, würde er wohl ausblenden. Rusterholz erwog noch einmal die Möglichkeit, dass er sich getäuscht haben könnte, weil er den Moment der Übergabe nicht gesehen hatte. Dann hätte die Japanerin versucht, den Verkäufer zu betrügen, und das traute er ihr einfach nicht zu. Aber Dragan? Ja, dem traute er es zu, das war die Wahrheit.
Nachts um drei stand Charles leise auf, ging in die
Küche und machte sich heißes Wasser. Er öffnete die Teeschachtel, überlegte sich, was ihn am ehesten beruhigen könnte, und zog dann einen Beutel Kamillentee heraus.
»Bist du krank?« Olivia stand unter der Küchentür, erstaunt.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Charles, »bin schon zum zweiten Mal wieder erwacht.«
»Plagt dich etwas?«, fragte Olivia.
»Eigentlich nicht«, sagte Charles, »ich kann es mir nicht erklären.«
Als er am nächsten Morgen zum Bahnhof ging, stand Dragan wieder am selben Ort, allein, blickte ihn nur einmal an und spuckte vor sich auf den Boden. Rusterholz tat so, als sähe er ihn nicht, machte aber einen kleinen Bogen und nahm die zweite der beiden Treppen. Beim Einbiegen zur Treppe von Gleis 5 drehte er den Kopf zurück und sah, dass ihm der andere nicht folgte. Erleichtert fuhr er zum Hauptbahnhof und überflog während der kurzen Fahrt die Gratiszeitung. Ein Russe, der bei einem Flugzeugunglück seine Frau und seine beiden Kinder verloren hatte, hatte den Schweizer Fluglotsen ausfindig gemacht, den er für den Schuldigen hielt und hatte ihn erstochen. »Rache also«, sagte sich Rusterholz, »Rache, das gibt es, im Osten.« Als er die Rolltreppe verließ, mit der er aus dem unterirdischen Bahnhof in die große Halle hochgefahren war, stand dort Dragan, der gerade von zwei Kollegen mit einem jener Handschläge begrüßt wurde, bei denen die offenen Handflächen in Gesichtshöhe aufeinanderprallen. Die beiden trugen wie er schwarze Lederjacken und tief ins Gesicht gezogene Mützen. Dragan schaute sich kurz
um, und Rusterholz ging hinter einer japanischen Touristengruppe und deren Samsonitekoffern durch und strebte dem linken Ausgang zu, obwohl er sonst den Hauptausgang benutzte.
Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er wenig später in der Straßenbahn saß und sicher war, dass ihm niemand auf der Spur war. Wie war das möglich, dass ihn Dragan am Hauptbahnhof erwartet hatte wie im Märchen vom Hasen und vom Igel? Rusterholz war zuhinterst in den Zug gestiegen, also wäre Dragan durch die Unterführung gerannt und im vordersten Wagen gefahren, wäre im Hauptbahnhof als Erster ausgestiegen und sofort die Rolltreppe hoch in die Halle geeilt, wo ihn seine Kollegen bereits erwarteten. Das war machbar, und doch konnte er es nur schwer glauben.
Er hatte diesen Vormittag Mühe, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, es galt, eine Reihe von Preisangeboten einzuholen, und zwar musste er sich an eine
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