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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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für den Mann, der das erlebte, was ich Ihnen im Folgenden erzählen möchte, Charles Rusterholz, er ging gegen die Vierzig und arbeitete bei einem Reiseunternehmen.
    Als er den kleinen Bahnhofladen mit den langen Öffnungszeiten betrat, um noch etwas Milch zu kaufen, hatte er soeben einem Menschen das Leben gerettet. Er war auf einer Straßeninsel am Fußgängerstreifen gestanden, die Ampel zeigte Rot, auf der zweispurigen Straße hatte die erste Spur Rot, die zweite jedoch Grün, und auf der ersten Spur standen zwei, drei wartende Autos. Da schob sich ein Junge mit seinem Kickboard an ihm vorbei über den Streifen. »Vorsicht!«, schrie Rusterholz laut, der das Auto auf der zweiten Spur herannahen sah, der Junge bremste, und das Auto fuhr knapp an ihm vorbei. Erschrocken kehrte der Junge um, und Rusterholz sagte zu ihm, er müsse aufpassen bei Rot. Neben ihm war eine Frau gestanden, die nichts gesagt und getan, sondern nur die Hand vor den Mund gehalten hatte, und der Mann gegenüber, der den fahrenden Wagen noch besser hatte kommen sehen als er, hatte auch nichts unternommen, um das Verhängnis abzuwenden, ja, Rusterholz hatte die beiden rückblickend sogar im Verdacht, sie hätten sehen wollen, wie ein Unglück passiere.

    Im Weitergehen hatte er sich überlegt, wieso er dem Jungen nicht noch ernster ins Gewissen geredet hatte, beispielsweise mit der Ermahnung, es gehe um Leben und Tod. Es wurde ihm jetzt auch bewusst, dass sowohl die Frau als auch er den ersten Teil der Straße bis zur Insel bei Rot überquert hatten, denn dieser Teil wurde nur von Trams befahren, und es war offensichtlich, dass keines kam. Der Kleine mit dem Kickboard musste also ihrem Beispiel gefolgt sein, insofern war er fast etwas mitverantwortlich. Rusterholz dachte auch an seinen eigenen zehnjährigen Sohn, dem er diese Geschichte unbedingt erzählen wollte, und nahm sich wieder einmal vor, der Kinder wegen stets und unbedingt stehen zu bleiben, wenn eine Fußgängerampel Rot zeigte, auch wenn weit und breit kein Fahrzeug zu sehen war. Im Ganzen war er doch zufrieden, dass er überhaupt reagiert hatte, denn eigentlich war er es nicht gewohnt, Autorität auszuüben, und ging auch Situationen, die nach Eingreifen rochen, aus dem Wege; von Betrunkenen im Bus oder von Punks mit zerrissenen Rucksäcken und Hunden mit einem roten Halstuch statt einer Leine setzte er sich stets möglichst weit weg.
    Diese Gedanken gingen ihm immer noch nach, als er die drei Liter Milch, um die ihn seine Frau gebeten hatte, an der Kasse zahlte und sah, wie die Japanerin hinter ihm für ihren Orangensaft und die Schokolade eine Zwanzigernote bereithielt. Dann wendete er sich ab, um eine dieser dünnen Plastiktüten von der Rolle zu reißen, die erstaunlicherweise stark genug waren, um drei Milchpackungen zu tragen. Als er diese verstaut hatte, hörte er,
wie die Japanerin zum jungen Mann an der Kasse sagte: »Ich habe zwanzig gegeben.« »Zehn«, sagte der Kassier. »Nein, zwanzig«, sagte die Japanerin. »Zehn«, sagte der Kassier, »Sie bekommen 6.20.« Die Japanerin klaubte das Wechselgeld zusammen und wollte resignieren, da sagte Rusterholz: »Es waren zwanzig. Sofort geben Sie ihr noch zehn Franken.« Überrascht musterte ihn der Verkäufer und sagte dann frech: »Sie hat zehn gegeben.« »Sie hat Ihnen zwanzig gegeben!«, sagte Rusterholz so laut, dass sich alle in dem engen Laden nach ihm umdrehten, »und ich bleibe so lange hier stehen, bis Sie ihr die zehn Franken rausgegeben haben.« Der junge Mann blieb hartnäckig. »Hat sie zehn gegeben«, behauptete er. »Hören Sie«, sagte Rusterholz, »ein richtiger Kassier legt die Note nicht in die Kasse, bevor er herausgegeben hat, dafür haben Sie hier an der Kasse diese Klammer, ja?« Und er zog mit einer Hand den Notenhalter hoch und ließ ihn auf die Kasse knallen. »So wie Sie kassiert nur ein Betrüger. Ich habe gesehen, dass es zwanzig waren.« Der Verkäufer hielt nun beide Hände zur Brust und schüttelte heftig den Kopf, da stand ein Mann hinter ihm, der offensichtlich sein Vorgesetzter war, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Gib ihr zehn Franken, Dragan.«
    »Aber –«
    »Hast du gehört?«
    Mit dem Ausdruck der tiefsten Beleidigung händigte der Kassier der Japanerin die zehn Franken aus und warf Rusterholz, als dieser mit gerötetem Kopf den Laden verließ , einen stechenden Blick nach. Die Japanerin folgte ihm und sagte: »Danke. Ich habe zwanzig gegeben.«

    »Schon gut«, sagte

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