Der Geisterfahrer
Rusterholz, »zum Glück habe ich es gesehen. Tut mir leid für Sie.«
»Alles okay«, sagte die Japanerin und lächelte, »danke.«
Rusterholz hob die Hand und schlug den Heimweg ein.
Erst jetzt merkte er, dass seine Knie zitterten und dass er schneller atmete. Noch nie hatte er etwas Derartiges getan. Keine Sekunde Überlegung war seiner Intervention vorausgegangen, er hatte es einfach nicht ertragen, wie diese zierliche kleine Frau zum Opfer einer Gaunerei wurde, und obwohl er die Übergabe der Note selbst nicht gesehen hatte, nur die Vorbereitung dazu, war er doch überzeugt, dass die Japanerin die Wahrheit sagte und nicht noch im letzten Moment ihre Zwanzigernote gegen eine Zehnernote gewechselt hatte.
Seinem Sohn Philipp erzählte er beim Abendessen die Episode auf dem Fußgängerstreifen und rang ihm das Versprechen ab, unter gar keinen Umständen bei Rot über den Fußgängerstreifen zu gehen, und erst recht nicht auf seinem Kickboard. »Klar«, sagte dieser nur, aber es klang nicht ganz überzeugend.
Als der Junge zu Bett gegangen war und Rusterholz mit seiner Frau Olivia noch ein Glas Wein trank, erzählte er ihr den Vorgang im Bahnhofladen. Sie wunderte sich. »Na sag mal, du hattest ja heute einen richtigen Heldentag. Hoffentlich steigt es dir nicht in den Kopf.« Charles lachte und sagte, es genüge ihm, dass sie ihn ein bisschen bewundere, beides sei ihm mehr passiert, als dass er es gewollt hätte. »Hast du dir gemerkt, wie der Verkäufer hieß?«, fragte seine Frau. Er stutzte einen Moment. »Der andere nannte ihn Dragan.« »Also einer aus dem Balkan«, sagte
sie. »Offenbar«, sagte er. »Pass auf«, sagte Olivia, »mit denen ist nicht zu spaßen.« Charles erschrak ein bisschen, ließ es sich aber nicht anmerken.
In den nächsten Tagen hatte er sehr viel Arbeit, da er zusätzlich für einen erkrankten Kollegen den neuen Paris-Prospekt redigieren musste, was an sich gar nicht sein Gebiet war, und sich dabei ärgerte über das immer gleiche Vokabular der Hotelanpreisungen, komfortabel, geschmackvoll, stilvoll, gut ausgestattet, besonders ruhig, charmant, und das hieß vielleicht im Klartext, dass der Frühstücksraum in einem mit Neonleuchten erhellten Untergeschoss war, in dem auf einem Fernsehapparat ein Morgenquiz lief. So hatte er die Episode im Bahnhofladen fast vergessen, als er eines Morgens daran erinnert wurde. Er wollte auf dem Vorstadtbahnhof die Treppe hinuntergehen, um mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren, da traf ihn aus dunklen Augen der Blick eines jungen Mannes, der sich an das obere Ende des Treppengeländers lehnte. Es musste der Verkäufer sein, mit dem er die Auseinandersetzung gehabt hatte, und Rusterholz war fast sicher, dass dieser ihn erkannt hatte. Als er aus der Unterführung die Treppe zum Gleis 5 hochstieg, warf er einen Blick zurück und sah, dass der junge Mann ihm langsam folgte. Der Zug fuhr ein, Rusterholz stieg im Gedränge zu und sah den andern nicht mehr, aber er hatte ein ungutes Gefühl, bis er an seinem Arbeitsplatz in der Stadt war.
Es war ein schöner Tag, also zog er am Abend, als er wieder zu Hause war, seinen Trainingsanzug an, um auf dem Sportplatz und im angrenzenden Wäldchen etwas zu rennen. Meistens drehte er zuerst ein paar Runden auf der
markierten 250-m-Bahn und bog dann ins Wäldchen ein, in das sich Hundehalter, Familien mit Kindern und Picknickende teilen mussten, zog eine Schlaufe auf den zwei Wegen, die es durchquerten und kam dann wieder auf den Sportplatz zurück. Als er heute am Familienspielplatz vorbeirannte, hörte er ein paar kehlige Stimmen, die ihm »Hopp Schwiz!«, nachriefen, und als er sich nach ihnen umblickte, sah er eine Gruppe untätiger junger Männer, die um die Schaukel herumstanden, auf denen sich einer von ihnen hin und her schwingen ließ. Der auf der Schaukel war derselbe, der ihm heute Morgen gefolgt war, und wieder durchbohrte er ihn mit seinem Blick. Rusterholz beschleunigte seinen Schritt, und statt die Schlaufe zu machen, verließ er das Wäldchen auf der andern Seite, um hinter dem Schulhaus durch wieder nach Hause zu gelangen. Als er die Kurve zum Schulhaus machte, schien ihm, dass sich drei der jungen Männer in Trab gesetzt hatten, was ihn dazu bewog, nicht den direkten Weg nach Hause zu nehmen, sondern einen Umweg über die Nachbarstraße einzuschlagen. Jedenfalls war, als er das Tor zum winzigen Vorgärtchen aufmachte, niemand von der Gruppe mehr zu sehen.
Seine Frau wunderte sich, dass er schon
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