Der Geisterfahrer
Dringlichkeits-Checkliste halten und konnte nicht in Ruhe bei einem Sachgebiet bleiben, er sauste telefonisch in ganz Europa herum, sprach mit Geschäftspartnern in England und Frankreich, die nicht im Traum daran dachten, eine andere als ihre Muttersprache zu benutzen und verhandelte dazwischen mit zwei Hotels auf einer kroatischen Ferieninsel, wo er es mit entgegenkommenden Menschen zu tun hatte, die sehr gut deutsch sprachen. Wieso, ging es ihm durch den Kopf, haben wir hier so viele düstere Typen aus dem Balkan, wenn die dort alle so freundlich sind?
Wieso haben wir überhaupt so viele fremde Menschen hier? Was wollen die alle? Können die nicht einfach bei uns Touristen sein wie wir bei ihnen? Er war in einem
Dorf aufgewachsen, wo sie in der Klasse zwei Ausländer hatten, einen Italiener und eine Spanierin, und heute ging sein Sohn in eine Klasse, in der sie zwei Schweizer waren, die andern waren alles Ausländer, aus der ganzen Welt, und es war nicht einmal ein Italiener darunter. Natürlich war es ihm nicht entgangen, dass auf den Straßenbaustellen nur unverständliche Sprachen gesprochen wurden, und als er seine Großmutter im Pflegeheim besucht hatte, wurden die alten Leute ausschließlich von lächelnden Asiatinnen herumgeschoben und verpflegt, aber es bedeutete einfach auch, dass die drei großen Schachspiele auf dem Marktplatz fest in der Hand des Balkans waren, und wieso wurde der Second Hand-Autohandel, der sich auf dem ehemaligen Gießereiareal etabliert hatte, von Schwarzen betrieben, und überhaupt, wieso waren die Schwarzen alle so unverschämt gut angezogen, und ihre Frauen stießen stets die neusten Kinderwagen vor sich her? Wer bezahlte das alles? Es war ihm schon mehr als einmal passiert, dass er, wenn er im Tram saß, gemerkt hatte, dass er der einzige Einheimische war, und das erschreckte ihn jedes Mal. In den Prospekten seines Reiseunternehmens wurden zwar die Schmelztiegel New York oder São Paulo angepriesen, aber Rusterholz war es noch nicht gelungen, sich über den Schmelztiegel Zürich zu freuen.
Über Mittag wollte er kurz zu einem Sandwich ins Stehcafé in der Parallelstraße. Als er um die Ecke bog, blickte er ganz schnell auf die Uhr und kehrte dann wieder um, als ob er etwas vergessen hätte, denn am Tischchen neben dem Eingang hatte er Dragan mit seinen zwei Kollegen gesehen.
Fast schlug er Haken über die Straßen und Trottoirs, bis
er bei der Paninoteca war, wo Tamilen überbackene Baguettes feilboten; er kaufte sich eine mit Käse und Spinat, nahm ein Mineralwasser dazu und erreichte dann in einem Zickzackkurs wieder sein Büro.
Am Abend war es nicht seine Frau, die ihn fragte, was er habe, sondern er fragte sie, denn er sah sofort, dass sie etwas bedrückte.
»Da war ein anonymer Anruf«, sagte sie. Der Anrufer habe, nachdem sie sich gemeldet hatte, einfach eine Weile gar nichts gesagt, und dann wieder aufgehängt.
Ob sich nicht jemand verwählt haben könnte, fragte Charles.
Sie glaube nicht, sagte Olivia, sie habe das Gefühl, das sei Absicht gewesen.
Sexuelle Belästigung?
Nein, aber sie hätte den andern atmen gehört.
Ein Mann?
Ja, ganz klar, und Straßengeräusche, also entweder vom Handy oder von einer Telefonsäule aus.
»Der Sauhund«, sagte Charles.
»Weißt du, wer es ist?«
»Zu 99 %«, sagte Charles, und dann erzählte er ihr, dass Dragan ihn verfolge, seit er aus dem Bahnhofladen entlassen worden war.
»Aber er hat dich nicht direkt bedroht?«
»Das nicht, er lässt bloß keinen Zweifel offen, dass er mich im Visier hat.«
Ob Charles versucht habe, mit ihm zu sprechen?
Das habe ihm nicht ratsam geschienen, vor allem, wenn dieser noch zwei andere dabei habe.
»Hast du Angst?«, fragte Olivia.
»Habe ich Angst? Ich weiß nicht, aber sicher kein gutes Gefühl.«
Olivia schlug ihm vor, wenn er Dragan das nächste Mal allein sehe, auf ihn zuzugehen und ihn anzusprechen. Vielleicht wolle er nur hören, dass es Charles leid tue, dass er entlassen worden sei.
Gut, sagte Charles, das werde er tun, aber wirklich nur, wenn Dragan allein sei. Er habe keine Lust, zusammengeschlagen zu werden. Und sie solle doch bitte auch auf sich aufpassen, jetzt, wo man damit rechnen müsse, dass er wisse, wo sie wohnen und wer sie seien.
Aufpassen, wie?
Zum Beispiel, wenn es zweimal klingle, nicht gleich den Türöffner drücken, sondern zuerst zum Fenster hinaus nach unten schauen, ob es wirklich der Postbote sei, und wenn sie das Haus verlasse oder wenn sie
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