Der Geisterfahrer
bringen.
Und das Geld –
Das nehme sie von ihrem Ersparten, sagte sie, schließlich lebe sie in einer Wohlstandsgesellschaft, und vergangenes Leid müsse irgendwie abgegolten werden.
Es habe allerdings ungleich größeres Leid gegeben als dasjenige des alten Feyn, wandte Roschewski ein.
»Aber man hat ihm eine Rechnung nicht bezahlt«, sagte Natalie, »und das genügt. Ich möchte sie ihm einfach bezahlen, fragen Sie nicht, warum. Und Sie wollten das doch auch.«
Roschewski nahm einen letzten Anlauf. Ja, sagte er, aber es sei eine Angelegenheit unter Juden gewesen.
Unter Menschen, sagte Natalie, und als Roschewski
hinzufügte, er würde sich gern mit der Hälfte des Betrags beteiligen, erwiderte sie, das sei sehr lieb von ihm, aber nicht nötig, schließlich sei die Rechnung an sie gegangen.
Ob sie denn, fuhr er fort, etwas dagegen hätte, wenn er sie begleiten würde.
Dagegen hatte sie nichts.
Die alte Frau, die ihnen am nächsten Sonntag kurz vor Mittag die Tür eines Backsteinreihenhäuschens in einer kleinen Seitenstraße der King’s Road öffnete, war zuerst etwas misstrauisch, aber als Roschewski seinen Namen nannte und sagte, er hätte ihre Adresse von Herrn Katz in Zürich und er und Frau Schaub möchten ihr etwas bringen, das ihren Vater Isaac betreffe, hieß sie die beiden eintreten. Als sie im winzigen Salon am Tisch saßen, auf dem eine schwere Brokatdecke lag, und aus den Teetassen nippten, die ihnen Rebecca Rosenberg-Feyn hingestellt hatte, begann Natalie zu erzählen. Die alte Dame hatte sie gebeten, zürichdeutsch zu sprechen, das sie zwar etwas verloren habe, das ihr aber vertraut vorkomme.
Bei der Stelle, wo sie sich mit Roschewski getroffen hatte, erzählte dieser seinen Teil der Geschichte weiter, und dann kam Natalie auf ihren Entschluss zu sprechen, das Geld hierher zu bringen, legte den alten Umschlag und die Rechnung auf den Tisch und daneben einen Umschlag der Bank, auf den sie »2220 Fr.« geschrieben hatte.
Rebecca Rosenberg traten die Tränen in ihre schönen alten Augen, als sie die Rechnung ihres Vaters ansah, mit der aufgedruckten Adresse und der fünfstelligen Telefonnummer mit dem Punkt nach der zweiten Ziffer, die sie sofort wiedererkannte. Sie könne das eigentlich gar nicht
annehmen, sagte sie, aber offenbar habe es ihren Vater so beunruhigt, dass i dänk, I should accept it.
Sie nahm die beiden Umschläge, ging zu einem zierlichen Sekretär an der Wand, auf welchem um einen siebenarmigen Kerzenständer verschiedene Fotos gruppiert waren, legte sie vor eines hin, das einen weißbärtigen Mann mit dunklen Augen, Schabbeslocken und einem schwarzen Hut zeigte, und sagte: »Look emol, Tate, wos i der bring. Bischt jetz zfride?«
Sie werde das Geld hier liegen lassen, und sobald der Fehlbetrag in der Buchhaltung nicht mehr auftauche, werde sie es einer Hilfsorganisation spenden. Nun zog Roschewski ebenfalls einen Umschlag hervor und sagte, wenn eine Schuld später beglichen werde, rechne man in der Regel den Zins dazu, er sei von einem durchschnittlichen Zinssatz von 3% ausgegangen, und da drin seien die 13 397.44, die Isaac Feyn noch zugut hätte, er habe sie auf 13 400. – aufgerundet. Natalie war sprachlos, und die alte Dame sagte in ihrer Mischung aus Zürichdeutsch und Jiddisch: »Ihr seids zwöi gonz liebi Lajt«, aber das könne sie nun auf keinen Fall entgegennehmen, und sie brauchte sehr viel Überredungskunst, bis Roschewski bereit war, seinen Umschlag wieder einzustecken.
Als sie Rebecca Rosenbergs Haus nach einem fröhlichen, improvisierten Mittagessen am Nachmittag wieder verließen und durch die King’s Road zur nächsten U-Bahn-Station gingen, ergriff Natalie Roschewskis Hand und zog sie in ihre Manteltasche.
Bei der Fertigstellung der Buchhaltung im Februar war der Fehlbetrag verschwunden, und im Frühling zogen Natalie
und Roschewski zusammen in die Parterrewohnung an der Gerhardstraße, da sich der Nachfolgemieter der Musikerin wieder zurückgezogen hatte. Nie haben sie dort des Nachts den alten Feyn husten gehört, und auch seine Nähmaschine hatte ihren Betrieb endgültig eingestellt.
Die Geschichte hat mir meine Nichte erzählt, die in der Wohngemeinschaft im obersten Stock wohnt und jetzt Natalie bei den Vorbereitungen zur Hochzeit hilft, was nicht ganz einfach ist, wenn man mit den jüdischen Ritualen nicht vertraut ist.
Rebecca Rosenberg haben sie als Trauzeugin eingeladen, und sie hat zugesagt.
Der Betrug
R usterholz ist ein guter Name
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