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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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vorbeiziehen, las noch einmal auf dem Zettel den Namen, Orkestar Salijević, und als er die Augen wieder hob, stand auf der andern Straßenseite Dragan, ganz allein, und blickte zu ihm herüber.
    Im ersten Moment wollte Rusterholz auf ihn zugehen, aber auf einmal verließ ihn der Mut. Woher wusste er, ob Dragan nicht ein Messer trug? Er drehte sich um und beschloss, in einem Umweg auf den Polizeiposten zuzugehen. Sollte ihm Dragan folgen, würde er den Beweis sozusagen gleich mitbringen. Dragan folgte ihm tatsächlich, und auf einmal hatte Rusterholz große Angst, dieser könne ihm etwas antun, bevor er den Posten erreicht hätte. Er beschleunigte seine Schritte und kam zu einer Ampel, die Rot anzeigte. Trotzdem überquerte er die Tramschienen und kam zur Insel, auf der die nächste Ampel auf Rot stand. Zwei Lieferwagen warteten auf der ersten
Spur vor dem Fußgängerstreifen, die zweite war frei, sodass Rusterholz rasch an den wartenden Autos vorbei über die Straße ging und von einem Motorrad erfasst und durch die Luft geschleudert wurde. Mitten auf der Kreuzung schlug er auf dem Boden auf, wollte sich wieder erheben, aber irgendetwas Schweres hinderte ihn daran.
    Als sich Dragan über ihn bückte, hatte sein Blick alles Stechende verloren, sondern wirkte zutiefst erschrocken. Er hielt Rusterholz ein Taschentuch an das Ohr, welches sich sogleich tiefrot verfärbte.
    Charles versuchte Atem zu holen, aber seine Lungen schienen Löcher zu haben. »Dragan«, sagte er keuchend, während das Gesicht über ihm schon vor seinen Augen verschwamm, »was … willst du…?«
    Der andere schob ihm behutsam die Hand unter den Kopf, beugte sich ganz nahe zu ihm und flüsterte: »Ich bin Mirko. Soll ich jemandem etwas ausrichten?«

Die Schenkung
    L etzthin war ich zum 60. Geburtstag eines Freundes eingeladen und traf dort alte Bekannte, die ich seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Es ergab sich, dass ich beim Kaffee mit einem Juristen, einer Regisseurin und einem Fotografen in einer Ecke saß, wir waren alle etwa im selben Alter, und das Gespräch kam auf die veränderten Arbeitsbedingungen in unseren Berufen und auf die veränderten Zeiten überhaupt. Als der Jurist sagte, einer der Vorteile des heute überall spürbaren Abbaus von Verwaltung sei doch ein gewisser Rückgang der Bürokratie ganz allgemein, beklagte sich die Regisseurin darüber, dass sie oft das Gefühl habe, sie müsse heute mit jedem ihrer Projekte wieder bei Null anfangen und dass sie immer öfter den Bescheid erhalte, die eine Stelle gebe nur etwas, wenn die andere Stelle ebenfalls etwas gebe, und wie sie ihre Exposés und Gesuche so breit wie möglich streuen müsse und die Suche nach Mitteln mittlerweile viel mehr Zeit verschlinge als die Arbeit selbst, sodass sie persönlich unter dem Eindruck stehe, die Bürokratie nehme zu, nicht ab. Während ich mir noch überlegte, wo und wann ich zuletzt in bürokratischen Ärger verstrickt gewesen war, sagte der Fotograf lächelnd, ob wir Lust hätten, ihm einen Moment zuzuhören, er könne uns zu dieser Frage eine Geschichte erzählen, die ihm passiert sei. Natürlich hatten wir Lust,
wir schenkten uns nochmals Kaffee nach, lehnten uns zurück, und er berichtete uns im Folgenden, was er mir weiter zu erzählen ausdrücklich erlaubt hat.
     
    »Ich bekam«, begann er, »für ein Buch, zu dem ich Fotos beigesteuert hatte, einen Check, und da es sich um Tantièmen auf Prozentbasis handelte, lautete der Check nicht auf einen runden Betrag, sondern auf Fr. 202.36. Er war auf eine Bank ausgestellt, von der sich eine Filiale in meiner Nähe befindet, und so ging ich eines Tages, als mir gerade das Bargeld ausging, bei dieser Bank vorbei und legte am Schalter den Check mit meiner Identitätskarte vor. Der Bankangestellte, ein jüngerer Mann mit tadelloser Krawatte und pomadisiertem Haar, fragte zuerst, ob ich bei ihnen ein Konto habe, und als ich verneinte, notierte er sich die Nummer meiner Identitätskarte und fragte mich dann, ob der Betrag von Fr. 202.36 in Ordnung sei. Ich nähme schon an, sagte ich, oder wieso er Zweifel habe. Wegen des Rappenbetrags, antwortete er, das sei doch unüblich. Es handle sich hier um einen prozentualen Anteil an verkauften Büchern, erklärte ich ihm, der Verlag nehme es offenbar genau, und wo denn das Problem sei. Das Problem sei, dass sie keine Rappenbeträge auszahlten. Er solle sich deswegen keine Sorgen machen, sagte ich, es genüge mir, wenn er mir 202.35 gebe. Das könne er

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