Der Geisterfahrer
Rarität dar, etwas, das z. B. meinen Kindern schon nicht mehr vertraut ist, und da 87 das Geburtsjahr unserer Sophie ist, dachte ich, dass ich damit irgendeinmal ein Geschenk für sie schmücken könnte, vielleicht an ihrem Achtzehnten nächstes Jahr, und behielt es. Ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Ich reinigte das Metall mit einem Papiertaschentuch und machte dann den nächsten Fehler.
Da ich meine Familie gern überrasche, steckte ich die Nummer nicht einfach in die Jackentasche, wo, wie ich von mir weiß, die Gefahr groß ist, dass ich sie vergesse und dass sie Sonja findet, wenn sie mir den Anzug zum Auslüften auf den Balkon hängt (das tut sie!), sie tadelt mich sowieso für alles, was ich in den Jackentaschen aufbewahre, die Agenda, den Kamm, Streichhölzer, Hochzeits- und Beerdigungsprogramme, es beule den Anzug aus, sagt sie. Also wohin mit dem Schildchen, damit ich zu Hause noch daran denke? In meine Brieftasche.
Nun sah ich den Zug kommen, ging eilends zur ersten der wartenden Menschentrauben und stellte mich zum Einsteigen an. Da es zwischen 5 und 6 Uhr war, hatte es ziemlich viele Leute. Ich geriet zwischen drei spanisch sprechende Männer mit Plastiktragtaschen, die sich vordrängten,
um einer Frau, die schon im Zug stand, die Taschen hineinzureichen. Als ich drin war, rief die Frau »No, no, no!« und stieg mit den Männern, die alle eine Tasche packten, im letzten Moment wieder aus, und der Zug setzte sich in Bewegung. »Aha«, dachte ich, »genau so werden Diebstähle organisiert.« Ich lächelte über meine Klugheit, dann machte ich einen kleinen Kontrollgriff in meine Jacke und merkte, was Du schon ahnst: meine Brieftasche war weg. Mein Handy hatte ich allerdings in der Mappe, ich rief sofort die Polizei an, schilderte den Hergang und das Diebesquartett und hinterließ meine Nummer.
Meine Dienste als Denunziant waren überaus brauchbar. Noch während ich zu Hause damit beschäftigt war, meine Kreditkarte und meine Bankkarten zu sperren, rief die Polizei an, die Diebe seien gefasst, meine Brieftasche sei sichergestellt, und ich könne sie ab sofort auf dem Posten in Uster abholen. Ob es möglich wäre, dass ich sie zugeschickt bekäme, fragte ich. Nein, leider nicht, man bitte mich, selbst vorbeizukommen und mich entsprechend auszuweisen. Am nächsten Morgen hatte ich eine Abdankung, und am Nachmittag Konfirmationsunterricht, also meldete ich mich für den übernächsten Vormittag an. Auch das ein Fehler, wie ich heute weiß. Sollte Dich je die Polizei anrufen, lieber Heiner, damit Du etwas Gestohlenes zurückholst, geh sofort hin und lasse ihnen keine Zeit, in Deinen Dingen zu schnüffeln!
Nun, ich treffe also auf dem Posten ein, lege meinen Pass vor und gebe nochmals eine kurze Schilderung des Diebstahls. Man zeigt mir die Fotos der vier, und ich bestätige , dass sie es waren, die mich beraubten, vor allem
die Frau erkannte ich einwandfrei wieder. Der diensttuende Polizist, ein grauhaariger, ruhiger Mann, bittet mich darum, Aussehen und Inhalt der Brieftasche zu schildern, ich tue das zu seiner Zufriedenheit, bis auf einen Punkt.
»War da nicht noch etwas?«, fragt er mich.
»Nicht dass ich wüsste«, sage ich.
»Denken Sie gut nach«, sagt er, »es ist vielleicht etwas, das nicht unbedingt in eine Brieftasche gehört.«
»Ach«, sage ich, »Sie meinen die alte Velonummer?«
»Richtig«, sagt der Polizist lächelnd, zieht die Brieftasche aus der Schublade, öffnet sie, sodass die Nummer sichtbar wird, und will sie mir geben. Doch dann stutzt er einen Moment.
Ob das eine alte Nummer meines Fahrrads sei, fragt er mich.
Nein, sage ich, die hätte ich gefunden und mitgenommen.
Wo denn das? will er wissen, und ich erzähle ihm die Geschichte mit dem Fund so, wie sie sich zugetragen hatte.
Er möchte die Nummer für eine Nachforschung behalten, sagte er, meinetwegen, sagte ich, er dürfe sie auch behalten, so wichtig sei sie mir nicht, nein, ich bekäme sie wieder, wenn die Nachforschung abgeschlossen sei, sie würde mir diesmal sogar zugeschickt, sagte er freundlich, und nun musste ich eine Quittung unterschreiben, dass ich ihm aus meiner Brieftasche folgenden Gegenstand aus meinem Besitz überlassen habe: 1 Fahrradnummer ZH 87, 912628.
Das hätte ich wohl besser nicht getan, aber was sollte ich machen? Ich fühlte mich zwar nicht als Besitzer dieser Nummer, sondern als Finder, vielleicht hätte ich auf diesem
Ausdruck beharren sollen, aber sag mir selbst, hättest Du
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