Der Geisterfahrer
wieder umkehren.
Er lehnte sich mit dem Rücken an die Stange der Tafel und schoss sogleich wieder auf. Das Brüllen, das jetzt ertönte, kam von ganz nah, da konnten höchstens zwei-oder dreihundert Meter dazwischenliegen, und es kam, da war er sicher, von der andern Seite des Zaunes, ihm konnte also nichts passieren.
Vorsichtig betrat er den Pfad hinter der Tafel, der enger war als derjenige im Camp, die Gräser wuchsen hier bis in Kniehöhe, es war offensichtlich, dass er seltener benutzt wurde. Er ging nun auf die Morgendämmerung zu, die sich im Osten ankündigte, trotzdem musste er den Boden vor seinen Füßen ausleuchten, der uneben und zum Teil von Wurzeln überzogen war. Als er die Höhe erreichte, auf welcher er den Tiger vermutete, blieb er stehen und leuchtete mit der Lampe durch den Zaun hindurch. Das Gebüsch dahinter war undurchdringlich. Es waren auch keine Geräusche wie brechende Zweige zu vernehmen, die den Gang eines großen Tieres verraten hätten.
In Christian Hiltmann war der Jagdinstinkt erwacht.
Es war nicht der Instinkt eines Jägers, der ein Tier erlegen wollte, sondern es war die Jagd nach einem Anblick. Er war nie auf einer Safari gewesen und hatte auch mit einer gewissen Belustigung zugehört, als ihm sein Bruder und dessen Frau erzählten, wie sie in Südafrika mit einem Kleinbus ins Löwengebiet gefahren waren und wie seine Schwägerin die Löwenmutter mit ihren Jungen erst dann gesehen hatte, als sie ihre Hosen hinter einem Baum heruntergelassen hatte, um zu pinkeln, und dann voller Panik zum Bus mit der Reisegruppe zurückgerannt war.
Hier gab es keine Reisegruppe, hier war nichts organisiert, hier war nur er allein, und irgendwo auf der andern Seite der Grenze eine Raubkatze, und diese Raubkatze wollte er sehen, denn sie musste ganz nahe sein.
Er überlegte sich, wie er am besten vorgehen sollte und ob er sich dabei in irgendeine Gefahr begab. Der Zaun war gute drei Meter hoch, war oben mit gerolltem Stacheldraht gekrönt und galt als unüberwindbar. Hiltmann wusste Bescheid, denn es gehörte zu den Aufgaben der Überwachungskommission, bei den Befragungen der Flüchtlinge aus Nordkorea dabei zu sein. Die wenigen Menschen, denen die Flucht gelang, kamen auf dem Seeweg oder über andere Länder, aber durch die Grenzsperre hatte es, seit er hier war, nur ein einziger militärischer Überläufer geschafft. Zu gut war das nördliche Gebiet abgeriegelt und bewacht, und zu stark war das Gelände unmittelbar vor dem Zaun mit Minen verseucht. Ein größeres Loch im Maschendraht, durch das ein Tier wie ein Tiger schlüpfen könnte, war also auszuschließen, und
dass dieser ein stachelbewehrtes Hindernis von derartiger Höhe überspringen konnte, schien ihm unwahrscheinlich.
Und wenn er von einer südkoreanischen oder amerikanischen Patrouille aufgegriffen würde, würde es wohl einen Verweis geben, aber kaum mehr. So hoffte er jedenfalls, denn ihm war kein solcher Vorfall bekannt. Er war nun fast ein Jahr hier und hatte sich für zwei Jahre verpflichtet. Als er sich zu diesem Dienst gemeldet hatte, dachte er fast an so etwas wie den Eintritt in die Fremdenlegion, doch mit so viel Eintönigkeit hatte er nicht gerechnet. Nun witterte er ein Abenteuer. Es war Sonntag, und die Kollegen würden erst am Montagmorgen ihren Dienst wieder aufnehmen, der Kommandant eingeschlossen. Streng genommen müssten sie nicht einmal unbedingt auf dem Posten sein, die Schweden verbrachten die Wochenenden meistens in der amerikanischen Basis in Seoul, wo auch alle Schweizer wohnten, und dass von ihnen ständig jemand da sein sollte, war eher eine Marotte ihres Chefs.
Nachdem er sich das alles durch den Kopf hatte gehen lassen, beschloss er, dem Tier auf der Spur zu bleiben, solange es ging, und am günstigsten schien ihm dafür, da stehen zu bleiben, wo er war, und auf das nächste Lebenszeichen von jenseits des Zaunes zu warten.
Nach und nach begannen die Vögel zu singen und teilten sich das Anbrechen des Tages mit. Die Schönheit des morgendlichen Konzerts stand in eigenartigem Widerspruch zur martialischen Situation im Grenzgürtel. Fremdartig quirlende Tonfolgen mischten sich mit Schalmeientönen, die aus den Baumwipfeln erklangen, und Hiltmann kam es vor, als sei er in einem verzauberten
Wald. Für die Vögel gab es keine Grenze, ihre kehligen Rufe verteilten sich gleichmäßig über die Nord- und Südseite der Demarkationslinie, die mit einem Bannfluch belegt war, dessen Macht niemand zu brechen
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