Der Geisterfahrer
marschierten, ließ nicht vermuten, dass es da unten um Krieg und Frieden ging. Sollten die Nordkoreaner wieder so etwas vorhaben und unvorsichtig genug sein, ihre Baumaschinen so nahe an die Grenze zu fahren?
Der Leutnant holte sich einen Stuhl, setzte sich darauf, legte beide Arme auf den Fenstersims und stützte sein Kinn auf einen Handrücken. Er wollte wach bleiben, falls das Geräusch noch einmal kam. Schließlich war er der Stellvertreter des Kommandanten und war an diesem Wochenende als Einziger auf dem Posten; wenn da auf der andern Seite eine unvorhergesehene Aktion unternommen würde, müsste er es sofort der südkoreanischen und der amerikanischen Armeeleitung melden.
Als er auffuhr, zeigten die Leuchtziffern seiner Armbanduhr halb vier. Das Geräusch war wieder da, und diesmal war es ein Knurren, welches die Fensterscheiben zum Vibrieren brachte und in einem kurzen Gebrüll endete.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Es war ein Tier. Da der Grenzgürtel, der sich auf dem 38. Breitengrad durch die ganze Halbinsel zog, seit dem Waffenstillstand für Zivilpersonen nicht mehr betretbar war, hatte er sich im Lauf von über fünfzig Jahren langsam zu einem Naturreservat entwickelt, zu einem Biotop für die verschiedensten Tierarten, in dem auch viele seltene Pflanzen wuchsen.
Dabei war die Nordseite des Grenzzauns nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere gefährlicher, denn sie war vermint. Ab und zu drang ein dumpfer Knall herüber, und man wusste dann, dass eine Tretmine explodiert war. Ob das Opfer ein Mensch war, der die Flucht versucht hatte, oder ein Tier, etwa ein Reh oder eine Gazelle, konnten sie jeweils nicht feststellen, der Wald war zu dicht.
Das nächste Geräusch war schon etwas weiter weg. Es waren kurze tiefe Stöße, fast klangen sie wie Hammerschläge einer Maschine, aber das Aufheulen am Schluss machte klar, dass da kein Bautrupp unterwegs war, sondern ein Tier. Ein großes Tier. Ein Raubtier.
Hiltmann erinnerte sich an die Behauptung von Wildbiologen, auf der nordkoreanischen Seite habe man schon den sibirischen Tiger gesehen. Diese Behauptung war wohl eher eine Vermutung, wenn nicht ein Gerücht, um die Wichtigkeit des Naturreservats herauszustreichen. Es gab mehrere Gruppen, die sich schon jetzt dafür stark machten, die ganze demilitarisierte Zone nach dem Friedensschluss,
der ja irgendwann einmal kommen musste, zu dem zu erklären, was sie jetzt schon war, zu einem Nationalpark.
Was immer es jedoch für ein Tier war, es schien sich etwas in östliche Richtung entfernt zu haben. Das war durchaus logisch, denn westlich des Camps befand sich der offizielle Grenzübergang mit den entsprechenden Gebäuden auf beiden Seiten. Der wurde zwar kaum benutzt, aber er war ständig besetzt und nachts beleuchtet, kein Aufenthaltsort also für wilde Tiere.
Ohne sich viel zu überlegen, zog Leutnant Hiltmann sein Pyjama aus und seine Uniform an. Er füllte eine PET-Flasche mit Wasser, steckte ein halbes Brot, eine Packung Schinken und einen Apfel in einen kleinen Rucksack, nahm die Stablampe in die Hand, schaltete sie ein und verließ seine Baracke. Er ging zum Platz neben dem Hauptquartier hinüber, auf dem sie jeweils die Besuchergruppen empfingen und bei schönem Wetter auch bewirteten und Fragen beantworteten, die häufig mit »What would Switzerland do, if –« begannen. Als ob Switzerland could do anything außer zuschauen. Im Norden stand eine Armee von mehr als einer Million Soldaten, im Süden waren es etwa 800 000, zusammen mit über 30 000 Hightech-bewaffneten Amerikanern, und dazwischen 5 Schweizer als neutraler Puffer, zusammen mit 5 ebenso neutralen Schweden. Und einer der Schweizer war er, Leutnant Christian Hiltmann aus Basel, der nun den Platz verließ und sich auf den Fußpfad begab, der am Grenzzaun entlang verlief.
Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und lauschte in die Dunkelheit. Seit dem letzten Gebrüll des Tigers, und was
konnte es anderes sein als ein Tiger, war fast eine halbe Stunde verstrichen, und Hiltmann hatte das Gefühl, in die Nähe von dessen letztem Standort gekommen zu sein. Oder war er bereits zu weit gegangen?
Eine Tafel auf einem asphaltierten Kehrplatz zeigte das Ende des Camp-Geländes an. Ab hier durfte der Pfad nur noch von Soldaten der südkoreanischen oder amerikanischen Truppen begangen werden. Hiltmann beschloss, auf ein nächstes Geräusch des Tigers zu warten, und setzte sich auf den Boden. Sollte er nichts mehr hören, würde er
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