Der Geisterfahrer
vermochte.
Da, da war er wieder! Hiltmann hörte ein tiefes, krachendes Husten, und zu seiner Enttäuschung war es weit weg, nachdem es doch vorhin so nahe gewesen war. Er steckte seine Lampe in den Rucksack und ging nun im frühen Tageslicht auf dem Pfad weiter. Ab und zu musste er einen Dornenzweig niedertreten, es sah nicht so aus, als ob hier täglich Kontrollgänge gemacht würden. Das Jubilieren der Vögel schwoll an. Jorinde ruft Joringel, dachte er plötzlich, das Lieblingsmärchen seiner Kindheit. Näherte er sich dem Schloss der Erzzauberin, in dem Jorinde und all die andern gefangenen Jungfrauen in ihren Käfigen saßen?
Vor einer durch und durch verrosteten Tafel, die von der Nordseite des Zauns herüberwarnte, hielt er an. Drei oder vier koreanische Schriftzeichen und die Buchstaben »ITAR« hatten dem Zerfall standgehalten. Ob er sich hier in der Nähe eines nordkoreanischen Postens befand? Doch gleich hinter der Tafel wucherte das Dickicht, das Dickicht, in dem sich irgendwo auch der Tiger aufhielt, oder aufgehalten hatte, als er zum letzten Mal hustete.
Nun überlegte er sich doch noch einmal, ob ihm etwa Gefahr von der nordkoreanischen Seite drohte. Was, wenn hinter dem Zaun eine Patrouille aufkreuzte? Was würde sie hindern, hinüberzuschießen? Es gab in der Nähe des Campgeländes einen Gedenkstein für zwei amerikanische
Soldaten, die den Ast eines Baumes abgesägt hatten, weil dieser die Sicht auf ein Stück des Grenzstreifens verdeckt hatte. Sie waren von den Nordkoreanern während dieser Arbeit erschossen worden.
Das erneute Brüllen des Tigers fegte seine Bedenken hinweg. Es war so nahe, dass Hiltmann bis ins Mark erschrak, und gleichzeitig stachelte es seine Neugier aufs Äußerste an. Er begann zu rennen, stolperte über eine Wurzel und fiel mit einem unterdrückten Aufschrei in einen Busch. Auf der andern Seite hörte er Äste knacken, ganz nahe zuerst, dann weiter weg, und ärgerte sich, dass er sich zu dieser Unachtsamkeit hatte hinreißen lassen. Indianer müsste man sein, dachte er, als er sich ächzend erhob und den Blutstreifen auf seinem rechten Handballen sah. Er holte die Flasche aus seinem Rucksack, goss sich etwas Wasser über die Hand und wischte sich dann mit dem Taschentuch die Erdkrümel aus dem Kratzer, der immer noch blutete. Seine Apotheke, er erinnerte sich deutlich, lag im Duschraum seiner Baracke, und so ballte er die rechte Hand um das Taschentuch zur Faust.
Aber die Richtung, in der er den Tiger vermutete, war dieselbe geblieben, ostwärts, also setzte sich auch Hiltmann wieder in Bewegung, so vorsichtig und geräuscharm wie möglich. Nach einer Viertelstunde hielt er an, um auf ein nächstes Zeichen zu warten. Vielleicht hatte er seinen unsichtbaren Gegner schon überholt. Obwohl sich bei ihm langsam der Hunger meldete, behielt er seinen Rucksack an, das Aufreißen der Schinkenpackung hätte ihn schon verraten können. So behutsam wie möglich ließ er sich im Gras nieder, betrachtete kurz seine Wunde und sah mit
Befriedigung, dass sie aufgehört hatte zu bluten. Er wartete.
Warten war ihm vertraut, es war eine der Hauptbeschäftigungen auf diesem seltsamen Außenposten. Man wartete ständig darauf, dass etwas geschah. Und wenn wirklich etwas geschah, wie letzthin die Bombardierung einer vorgelagerten südkoreanischen Insel, dann mussten sie hingehen, zu zweit oder zu dritt, und sich über das Ausmaß des Schadens kundig machen, mussten es als Verletzung des Waffenstillstands deklarieren und den Protest bei den Nordkoreanern deponieren. Einmal in der Woche fand eine Sitzung in einer der Baracken statt, deren eine Hälfte nördlich der Demarkationslinie lag, deren andere südlich, und dazu waren außer den Schweizern und den Schweden die Amerikaner, die Südkoreaner und die Nordkoreaner geladen. Für die Möblierung der Baracken hatte die Schweiz gesorgt, indem sie aus dem Bundeshaus in Bern die alten Stühle und Tische des Ständeratssaales eingeflogen hatte, deren Festlichkeit nicht ganz dem Provisorium einer Baracke entsprach. Bei diesen Sitzungen wartete man jeweils vergeblich auf die Nordkoreaner und fing dann ohne sie an. Sie blieben bis zuletzt fern; es wurden die hängigen Fragen und eben auch die festgestellten Verletzungen des Abkommens besprochen, mit dem Protokoll der Sitzung ging man in den Windfang vor der nordkoreanischen Türe und steckte es dort in einen Briefkasten. Eine Woche später war das Protokoll nicht mehr da, aber die Nordkoreaner
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