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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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sich im Bezirksgefängnis ein ausländischer Untersuchungshäftling erhängt habe.
     
    Dieser Untersuchungshäftling war ein älterer Deutscher, den man bei einer sommerlichen Straßenkontrolle verhaftet hatte, weil sein Wagen fast vollständig mit Silberbarren gefüllt war, über deren Herkunft er keine Angabe machen wollte. Man vermutete zunächst, dass eine Verbindung zu einer großen illegalen Silberaffäre bestand, in deren Zusammenhang sich auch ein Zürcher Anlageberater erschossen hatte. Die Untersuchung zog sich, wie die meisten Untersuchungen dieser Art, in die Länge, man erstreckte die Haft, Kollusionsgefahr, wie es hieß, es wurde Herbst und die Sache wurde nicht klarer, umso mehr als der Verhaftete jede Aussage ablehnte, und am ersten Adventssonntag erhängte sich also der Deutsche in seiner Zelle. Selbstmord in Untersuchungshaft ist zwar bei der Justiz wegen der schlechten Wirkung auf die Öffentlichkeit nicht beliebt, wird aber in einer Angelegenheit wie dieser doch mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen. Wohl bleibt der Fall ungeklärt, aber er verliert mit dem Tode des Häftlings an Aktualität, es ist nichts mehr da, das zu Entscheidungen drängt, und wenn keine
Folgeereignisse eintreten, kann man ihn samt seinem düsteren Umfeld nach und nach in Vergessenheit geraten lassen.
     
    Es waren denn auch einige Jahre seit dem Tod dieses Mannes vergangen, als die Rede im Gespräch auf ihn kam, einem Gespräch, das ich mit einem Staatsanwalt in dessen Amtszimmer führte. Der Staatsanwalt war ein Jugendfreund von mir, ich hatte ihn an diesem Tag wegen eines Delikts aufgesucht, das in meiner Nachbarschaft begangen worden war und in dem er ermittelte.
     
    Als ich ihm erzählt hatte, was ich ihm erzählen wollte, plauderten wir noch eine Weile über unsere Tätigkeiten und Ansichten, und ich fragte ihn unter anderem, was ihn in seinem Beruf am meisten belaste. Ich dachte eigentlich, es sei die ständige Beschäftigung mit den schlechten Seiten der Menschen oder der Gedanke an die Nutzlosigkeit des Kampfes für das Recht, aber es war etwas ganz anderes: »Das Unaufgeklärte«, sagte er ohne zu zögern, »das Unaufgeklärte.« Er habe, sagte er weiter, einen ganzen Schrank davon, und griff sogleich zu einem Schlüssel, um ihn zu öffnen. Er enthielt im unteren Teil Hängeregistraturen, darüber Aktenbündel und einige vereinzelte Gegenstände, die alle mit unaufgeklärten Fällen zu tun hatten, eine Brieftasche war dabei, ein abgerissener Koffergriff, ein altes Velonummernschild, ein Klassenfoto, Kleinkram, der aber dadurch, dass jedes Stück in Beziehung zu einem Verbrechen stand, eine eigenartige Ausstrahlung hatte, die Gegenstände lagen fast vorwurfsvoll auf ihren Regalen.

    »Was ist mit dem Halstuch?«, fragte ich und zeigte auf ein rot-weiß-blaues Halstuch, das neben einer zertrümmerten Schreibmaschine lag. Der Staatsanwalt stockte einen Moment, bevor er mir antwortete.
    »Damit hat sich einer in der Untersuchungshaft erhängt«, sagte er dann.
    »Und was ist daran unaufgeklärt?«, fragte ich weiter.
    »Alles«, sagte er schnell. »Ich konnte mir nie recht erklären, warum er sich umgebracht hatte.«
    Dann erzählte er mir kurz die Umstände der Verhaftung und des Verdachts.
    »Was wusstet ihr denn über den Mann?«, fragte ich.
    »Nichts«, sagte er. »Ein Deutscher mit einem Ausweis auf den Namen Rehmann, der gefälscht war. Seinen wirklichen Namen haben wir nicht herausgekriegt, aber ich bin sicher, dass es einer war, der eine Vergangenheit hatte.« Ich schaute das Halstuch an, wagte jedoch nicht, es in die Hand zu nehmen.
    »Dass man sich mit so etwas erhängen kann«, sagte ich.
    »Ja«, sagte er, »das hat mich auch verwundert.«
     
    Auf dem Weg nach Hause kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich früher einmal selbst ein solches Halstuch besessen hatte. Ich hatte es in Frankreich gekauft, in Südfrankreich, in Avignon, auf unserer Maturreise, vor mehr als zwanzig Jahren. Es gab dort einen Warenmarkt, auf dem man vom Tongeschirr bis zur Anglerausrüstung alles haben konnte, und dort hatte eine Frau einen Stand, die ausschließlich Halstücher verkaufte. Es war ein kleiner Stand, aber er fiel auf durch die Beschränkung auf den einen Artikel. Alle
ihre Halstücher sahen genau gleich aus, und bei allen war am einen Ende ein kleiner Elefant gestickt, eine Art Markenzeichen der Marktfrau. Ich hatte dieses Halstuch für kurze Zeit getragen und hatte es dann meiner ersten großen

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