Der Geisterfahrer
man im technischen Zeitalter, in dem wir nun einmal leben, nicht aufgrund von Spukgeschichten, die im Übrigen nur durch Erzählungen kleiner Kinder belegt seien, überstürzte Maßnahmen treffen dürfe, und dass somit eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 100 km die einzige zumutbare Einschränkung sei. Zugleich empfahl man den Autofahrern besondere Vorsicht auf dieser Strecke.
Erst als sich ein halbes Jahr später ein Bus mit einem Altersheimausflug bei einem brüsken Ausweichversuch überschlug und in Flammen aufging, sperrte man die Überholspur endgültig und mauerte den Stein an seiner alten Stelle ein.
Seither sind dort keine Unglücke mehr geschehen. Ob man rechts wieder eine Spur anbauen will, ist noch nicht entschieden, jedoch bei der heutigen Finanzlage wenig wahrscheinlich, und so bleibt es vorderhand bei diesem Ärgernis, das natürlich wie jeder Flaschenhals dauernd zu Stauungen führt, und viele Automobilisten, die an dieser als Baustelle markierten Verengung vorbeifahren und den Stein sehen, schütteln den Kopf und wettern auf die Regierung, andere, wie ich zum Beispiel, empfinden bei diesem Anblick eine ungeheure, fast nicht zu erklärende Befriedigung.
Das Halstuch
D iese Geschichte ist nur wenigen bekannt, denn es wurde alles getan, um sie zu verheimlichen. Trotzdem weiß ich sie. Niemand, dem Geheimnisse anvertraut sind, kann diese ganz für sich behalten, und in Zürich gibt es viele Geheimnisse.
Zürich ist eine große Stadt, nicht an ihren Einwohnern gemessen, sondern an ihrer Wirkung. Hier wird mit Gold und Edelsteinen gehandelt, hier werden tropische Wälder abgesägt und ferne Täler unter Wasser gesetzt, hier werden Bohrinseln auf wilde Meere gepflanzt, Wüsten werden bewässert und neue Wüsten geschaffen, Kredite werden vergeben, die sofort wieder als Zahlungen zurückfließen, weit entfernte Ländereien werden dem Meistbietenden zugeschlagen, Fabriken werden am einen Ort stillgelegt, um am andern Ort wieder zu erstehen, Weizen, Salz und Kaffee werden aufgetürmt, Kanonen und Panzerwagen werden Freund und Feind in die Hand gespielt, Politik wird hier nicht gemacht, sondern bekämpft, durch die verbrüdernde Weltmacht Handel, unter deren Schutz sich in Zürich die Russen mit den Südafrikanern treffen, die Israelis mit den Arabern und die Mafia mit dem Vatikan. Man sieht gar nicht viel davon in der Stadt, wem fallen schon die grauen Lieferwagen auf, die diskret gepanzert zwischen Handwerkerautos und missmutigen Pendlern in den Kolonnen
stehen und eine Tonne Gold vom Flughafen zum Paradeplatz bringen oder ein paar Millionen reingewaschene Dollars vom Paradeplatz zum Flughafen, und die gutgekleideten Männer, die mit den schwarzen Köfferchen durch die Bahnhofstraße gehen, werden rasch vom fröhlichen Strom der Einkaufenden verschluckt, schließlich liegt das größte Spielwarengeschäft keinen Steinwurf von der größten Bank entfernt, und Confiseure, Schuhläden und Warenhäuser tun das Übrige, um den wahren Herren von Zürich den natürlichsten Schutz zu geben, den Schutz der Menge. Man spürt nur irgendwie, dass Geld Platz braucht, es mehren sich die hohen Häuser mit spiegelnden Fronten an Plätzen, wo früher schlecht isolierte Miethäuser standen, Autobahnen fressen sich unnachgiebig ins Herz der Stadt, und die Schulklassen werden immer kleiner, denn die Eltern können mit ihren Kindern nicht in den Bürohäusern wohnen, und auch nicht in den sanierten Altstadtapartments, welche den Leuten aus Rio de Janeiro oder Toronto gehören, die ja auch irgendwo zu Hause sein müssen, wenn sie für ihre Abholzungstransaktionen und ihre Turbinenmonopole ein paar Wochen in die Schweiz kommen.
Wie eine Krake sitzt diese Stadt am unteren See-Ende, eine Krake, deren Fangarme in die ganze Welt hinaus reichen, sie gibt und nimmt, und mit dem Geld, das sie nimmt, nimmt sie auch die Unruhe, die Unzufriedenheit, die Ungleichheit, den Unmut der Welt zurück nach Zürich, und dann gehen Erschütterungen durch die Stadt, plötzlich liegt die Bahnhofstraße in Scherben, und niemand kann es sich erklären in diesem schönen und
lebenslustigen und durch und durch gesunden Gemeinwesen mit den vielen Tulpenbeeten des Gartenbauamtes. Aber auch diese Erschütterungen legen sich wieder, und die Zeichen der Weltstürme schrumpfen zu den vertrauten kleinen Nachrichten, dass in einem Zimmer des Hilton Hotels ein Libanese ermordet wurde, dass ein italienischer Bankier in Kloten festgenommen worden sei oder dass
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