Der Geisterfahrer
es eine Kette von ihm zu mir. Das war aber so absurd, dass ich es sofort dementiert haben wollte und die Nummer des Staatsanwaltes einstellte.
»Was weißt du über dieses Halstuch?«, fragte er mich, nachdem ich meine Frage gestellt hatte.
»Sind braune Flecken drauf oder nicht?«
Der Staatsanwalt stand auf und schaute nach. Dann kam er zurück zum Telefon.
»Ja«, sagte er, »es sind braune Flecken drauf, aber was –«
»Um Gottes willen«, sagte ich und hängte auf.
Am Abend besuchte mich der Staatsanwalt und machte ein besorgtes Gesicht.
»Du solltest mir alles sagen, was du über dieses Halstuch weißt«, sagte er.
»Hast du mir alles gesagt, was du darüber weißt?«, fragte ich ihn.
Er zögerte. »Nein«, sagte er dann, »das kann ich nicht.«
»Dann kann ich es auch nicht«, sagte ich, und damit war unsere Unterredung beendet.
Erst nachher überlegte ich mir, warum ich ihm eigentlich nichts sagen wollte. Ich hatte keinen Grund, ihm irgendetwas zu verbergen, denn schließlich hatte ich nichts mit diesem Selbstmord zu tun, außer dass ich am Anfang einer Kette zu stehen schien, von der ich nicht alle Teile kannte, ja gerade die wichtigsten fehlten mir. Aber nun wollte ich die Wahrheit erfahren, und ich spürte, dass er
mir für diese Wahrheit Dinge preisgeben musste, die er nicht preisgeben durfte, es sei denn, auch ich hätte ihm ein Geheimnis anzubieten, und halb war ich ja schon im Besitze eines Geheimnisses. Es fiel mir auch auf, wie recht er hatte mit der Belastung durch das Ungelöste. Obwohl ich mir persönlich nichts, aber auch gar nichts von der Klärung der Umstände versprechen konnte, mit denen ich nur durch einen Zufall etwas zu tun hatte, lag mir plötzlich alles daran, herauszubekommen, was mit diesem Halstuch geschehen war.
Bevor ich mich mit der Kinderärztin in Verbindung setzte, versuchte ich mich nochmals an alle Erlebnisse zu erinnern, die mit diesem Halstuch zusammenhingen, und da tauchte gleich am Anfang etwas auf, das ich bisher vergessen hatte. Die Frau, die hinter diesem Stand saß, die Frau hatte einen sehr eindringlichen Blick gehabt, grauhaarig war sie gewesen, aber ihre Augen waren nicht alt, vielleicht war sie damals etwa fünfzig, und sie hatte mir etwas Besonderes gesagt, als ich das Halstuch gekauft hatte, sie hatte es mir selbst um den Hals gelegt, und was zum Teufel hatte sie dann gesagt, als sie mich dazu anschaute, der Französischlehrer, der die Reise begleitete und beim Kauf danebenstand, erwähnte es nachher nochmals halb scherzhaft halb lehrhaft der Klasse gegenüber, weil eine ungewöhnliche Form vorgekommen war … was waren denn die ungewöhnlichen Formen im Französischen, die uns als Schüler Mühe gemacht hatten… der Subjonctif – ja, da war es wieder: »Qu’il aille chercher son maitre!«, hatte sie gesagt, es möge seinen Meister suchen, das Halstuch, und als ich dann, witzig, sagte: »Il l’a déjà trouvé«, es hat ihn
schon gefunden, da sagte sie: »Est-ce que vous en êtes sûr, jeune homme?« Sind Sie da so sicher, junger Mann?
Sollte diese Frau mit ihrem tiefen Blick vorausgesehen haben, dass dieses Halstuch der Anfang einer Kette werden sollte, wünschte sie sogar eine solche Kette, war sie am Ende mehr interessiert an der Kette als am Halstuch selbst, verfolgte sie eine bestimmte Absicht damit? Nie wieder hatte ich auf irgendeinem Warenmarkt einen Stand gesehen, an dem jemand nur Halstücher verkaufte, wahrscheinlich konnte man davon gar nicht leben.
Nun rief ich die Kinderärztin an und fragte, ob ich gegen Schluss der Sprechstunden vorbeikommen könne. Sie hatte nichts dagegen, und am selben Nachmittag setzte ich mich bei ihr auf den Patientenstuhl, der wohl eher der Stuhl für die Mütter war, und sagte ihr, dass ich erst seit Kurzem wüsste, dass wir eine gemeinsame Freundin hätten, erzählte ihr von meiner früheren Beziehung und fragte sie dann, ob sie sich noch an dieses Halstuch erinnere. Die Ärztin war zuerst erfreut gewesen, als ich ihr den Namen genannt hatte, man ist meistens erfreut, wenn eine Bekanntschaft überraschend über einen andern Menschen zurückkommt, man lebt ja in seinen eigenen Beziehungen wie in einem Straßennetz, das man nie ganz kennt – aber als ich das Halstuch erwähnte, wurde sie verlegen.
»Sie haben es weitergegeben, nicht?«, fragte ich vorsichtig.
»Ja«, sagte sie, »ja, ich habe es jemandem gegeben.«
»Darf ich fragen, wem?«
Sie überlegte einen Augenblick, schaute mich
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