Der Geisterfahrer
gegenseitig im Streit erstochen hatten, in der Wöschnau hatten sie gewohnt, sagte sie, das ist ein Weiler zwischen Schönenwerd und Aarau.
Bei meinen Großeltern in Schönenwerd war auch ein Atlas aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, den ich oft studierte, wenn ich als Bub dort in den Ferien war. Etwas, das mich besonders faszinierte, war die damalige Größe der Türkei. Die braune Farbe des osmanischen Reiches erstreckte sich von Ägypten bis weit in den Balkan hinein. Später, mit zwölf Jahren, wurde ich schwer krank und musste ins Zürcher Kinderspital. Dort war ich eine Weile mit einem fünfjährigen Türkenbüblein im Zimmer. Er hatte einen Tumor am Hals, ein grässliches Gebilde, das ihm dann erfolgreich entfernt wurde. Er hieß Toni und
lernte in ganz kurzer Zeit Schweizerdeutsch, und als wir beide wieder entlassen waren, schrieb ich ihm zwei-, dreimal, sein Vater sprach Französisch, meiner auch, und so mussten die Väter einander die Grüße ihrer Söhne übermitteln. Bald kam aber eine Karte, auf der ich Toni um ein paar türkische Briefmarken gebeten hatte, zurück mit einem Stempel und einer Aufschrift, die etwa »Adres kafi« hieß, aber noch aus weiteren Wörtern bestand, in der Handschrift eines türkischen Postbeamten. Mein Vater nannte mir dann einen Mann, der einmal zwei Jahre lang in der Türkei gelebt hatte. Ich ging mit der Postkarte zu diesem Mann, er war sehr alt und hatte einen langen weißen Bart und sagte, als ich ihm die Karte zeigte, es sei schon sehr lange her, dass er in der Türkei gewesen sei, was ich ihm auch sofort glaubte. Ich schickte dann die Karte der türkischen Botschaft in Bern, obwohl eigentlich längst klar war, dass es sich hier um eine ungültige Adresse handeln musste, aber was dahinter stand, wollte ich wissen, ob die Leute umgezogen oder verreist oder gestorben waren. Die türkische Botschaft schrieb mir einen Brief, der mit »Monsieur« begann und erklärte mir, dass es sich um eine ungültige Adresse handle, und da sie auf der Postkarte gelesen hätten, dass ich mich für türkische Briefmarken interessiere, legen sie mir einige bei. Aber von Toni vernahm ich nie mehr etwas.
Viel später, in einem Restaurant, hörte ich, wie eine Serviertochter, als ihr ein Türke Avancen machte, sagte, in der Türkei hätten alle Männer zwei Frauen, eine Vorstellung, von der sie sämtliche Beteuerungen des Türken nicht abhalten konnten.
Und nun? Was sollte ich mit diesen weit auseinander liegenden Einzelteilen? Ich wusste nicht mehr. Ich merkte nur, dass ich wieder von Araman da Silva träumte, und zwar in derselben undeutlichen Weise, so, als ob er sich eben erst bilden würde.
Blieb mir noch als mögliches Schlüsselwort der Terrorist. Ein Terrorist verkörpert für mich die Art von kalter Aggression, bei der mir der Speichel wegbleibt. Es gibt nichts, was ich so sehr ablehne wie den Terrorismus, und nichts, was ich so sehr verstehe. Das gesammelte Unbehagen an unserer Zeit, in verzweifelte Einzelaktionen umgesetzt – ein Hauch von Respekt oder schaudernder Bewunderung bleibt, den man für jeden Kompromisslosen und Desperado hat. In meiner ersten Zürcher Wohnung ließ ich das Telefon von einem Elektrounternehmer einrichten, dessen Sohn später als Terrorist bei einem Gefecht mit der Kölner Polizei erschossen wurde.
Aber dieser Gedanke brachte mich auch nicht weiter. Nur der Traum kam in regelmäßigen Abständen wieder, ohne sich auch nur ein bisschen zu verdeutlichen. Ich muss zugeben, dass er mich beunruhigte, weil ich das Gefühl hatte, dass er mir etwas Wichtiges klarzumachen versuchte, ohne dass ich wusste, was das sein könnte.
Schließlich kam mir dann in den Sinn, dass ich einen andern Traum, nämlich den, in dem ich auftreten musste, ohne meine Rolle zu können, gehabt hatte, lange bevor ich beruflich auftrat. Vielleicht, sagte ich mir, kann ich diesen Traum jetzt noch gar nicht erklären, und sein Sinn wird sich später von selbst ergeben.
Mit dieser Annahme hatte ich recht.
Etwa ein halbes Jahr, nachdem sich Araman da Silva bei mir angemeldet hatte, war ich für einige Zeit in Berlin und besuchte dort einen Bekannten, der in Kreuzberg wohnte. Der Bus, den ich am Kurfürstendamm bestieg, absolvierte eine jener wunderlichen Zickzackfahrten durch die Stadt, über die man sich freut, wenn man als Fremder auf dem vordersten Sitz der oberen Reihen ist, aber die einen wahrscheinlich schon bald ins Taxi treiben, wenn man hier wohnt. Nachdem er die glanzvollen
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