Der Geisterfahrer
Gegenden Westberlins verlassen hatte und sich das Niemandsland um die Kongresshalle langsam in ein Garagen- und Werkstattviertel zu verwandeln begann, stieg ich bei der Haltestelle, die mir beschrieben worden war, aus. Ich ging an einer Aral-Tankstelle vorbei ein paar Schritte in der Richtung, aus der ich gekommen war, wandte mich dann nach links, und sah über der Straße eine hohe Brandmauer, an die ein bewohntes Haus unmittelbar anschloss, welches alsbald in ein Fabrik- und Lagerhallengebäude überging. Auf der Brandmauer las ich überlebensgroß das Wort KARMAN, mit schwarzer Farbe auf grauen Verputz geschrieben. Ich blieb eine Weile stehen und schaute es an, merkte deshalb nicht, dass mein Bekannter schon lange an einem Fenster im zweiten Stock des eingeklemmten Hauses stand und mir zuwinkte.
Erst als er mir nachher auf die Frage nach der Bedeutung der Aufschrift sagte, das müsse im Zusammenhang mit einer internen Auseinandersetzung im Türkenviertel stehen, wurde mir bewusst, dass Kreuzberg ja der türkische Stadtteil von Berlin ist. Irgendeinmal hatte ich gehört, dass er einer der größeren türkischen Städte sei, auch
gemessen an der Türkei selbst, oder die größte außerhalb der Türkei, jedenfalls war ich äußerst einverstanden, als mein Bekannter vorschlug, wir könnten in ein türkisches Lokal essen gehen. Ich hatte schon daran gedacht, meines Traumes wegen einmal in die Türkei zu fahren und war jetzt über die unerwartete Begegnung mit türkischem Leben erfreut und auch etwas aufgeregt.
Auf dem Weg ins Restaurant kamen wir nochmals an einer Mauer vorbei, auf die mit einem Spray das Wort KARMAN geschrieben war. Meinem Bekannten war das, obwohl er täglich hier vorbeiging, noch nicht aufgefallen, und er wies mich lediglich darauf hin, dass die Auseinandersetzungen zwischen progressiven und konservativen Türken auch hier im Exil mit äußerster Härte geführt würden und erzählte mir von einem Überfall eines konservativen Schlägertrupps auf flugblattverteilende Linke, in die er hineingeraten war und bei der ein Lehrer getötet wurde. Türkische Plakate warben für türkische Unterhaltungskünstler, das einzige deutsche Wort darauf war der Ort der Veranstaltung, die Auslagen der Obst- und Gemüsehändler wurden vielfältiger und reichten immer weiter auf die Straße hinaus, je kleiner die Schaufenster der Gemischtwarenläden, desto größer war das darin zusammengequetschte Angebot, mehr Leute standen auf der Straße, einige saßen sogar auf Stühlen, die sie aufs Trottoir gestellt hatten, man sah immer mehr Frauen mit diesen eigenartigen Kopftüchern, bei denen man das Gefühl hat, sie nehmen sie auch im Schlaf nicht ab. Den Frauen, sagte mein Begleiter, ginge es hier nicht besonders gut, vor allem nicht den Mädchen, die hier deutsche Schulen besuchen,
aber von ihren Eltern zusätzlich in die Koranschule geschickt werden, wo ihnen alles, was deutsch ist, als Verkörperung des Bösen dargestellt werde. Als ich fragte, ob nicht auch die Buben in die Koranschule müssten, sagte er, doch, die auch.
Ich kann mich nicht an das Gericht erinnern, das ich im Restaurant aß, die Namen kann ich mir sowieso nicht merken, da ich zur türkischen Sprache keinerlei Beziehung habe. Auch war ich sehr abgelenkt durch die Atmosphäre, die so ländlich war, dass man Mühe hatte mit dem Gedanken, in Berlin zu sein. Neben uns aß einer, ein älterer Mann, fast nur mit den Händen, aber so selbstverständlich und schön, wie es eben nur Leute können, die ein Leben lang so gegessen haben. Gegen Ende unserer Mahlzeit ließ ich meinen Blick über die Wände gleiten, den Wasserpfeifen und beschlagenen Kupfertellern nach, über eine Sammlung von alten aufgehängten Pistolen, und erstarrte. In der Ecke links gegenüber vom Eingang hing in ziemlicher Höhe eine gerahmte Fotografie meines Großvaters. Ich sah sofort, dass eine Verwechslung ausgeschlossen war. Ich sah das nicht nur deshalb, weil ich meinen Großvater in sehr klarer Erinnerung habe, sondern weil ich dasselbe Bild auch besaß. Auf diesem Foto schaute er von links nach rechts, er hatte eine Krawatte an, es war kein Schnappschuss, sondern ein Portrait, ein Passfoto, eigens aufgenommen jedenfalls, eines, das den Portraitierten so zeigt, dass er mit sich einverstanden sein kann. Mein Großvater war vollkommen kahlköpfig, sehr mager, in seinem Gesichtsausdruck waren Bescheidenheit und Skepsis zugleich, und er sah schon auf den früheren
Fotos so aus, wie ich
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