Der Geisterfahrer
ihn noch gekannt hatte. Dieses Foto hier zeigte ihn um die fünfzig herum, nach seinem Tod hatte ich es von meiner Großmutter bekommen, es war eines jener Fotos, bei denen der Name des Fotografen noch als Reliefsignatur unten rechts erscheint, das Papier war auch etwas bräunlich getönt.
Mein Bekannter hatte gemerkt, dass ich auf einmal verändert war und fragte, ob etwas sei.
»Ja«, sagte ich, »ja, es ist etwas.«
»Was denn? Was denn?«
»Kennen Sie den Besitzer des Lokals?«
»Ja«, sagte er, »der Mann, der neben der Kasse steht.«
»Kommen Sie«, sagte ich, »kommen Sie, wir zahlen.«
Wir gingen zur Kasse. Obwohl der Bekannte darauf bestand, dass ich eingeladen sei, bezahlte ich alles und fragte den Kassierer, wer der Mann auf dem Bild sei. Ich weiß nicht mehr, was für eine Antwort ich erwartet hatte, ich weiß nur, dass ich diese Antwort nicht erwartet hatte.
»Das ist mein Vater«, sagte er.
Ich hielt mich mit einer Hand an der Theke fest.
»Sind Sie sicher?«, fragte ich.
»Wieso?«, sagte er.
Ich schaute ihm in die Augen und war plötzlich ganz ruhig.
»Weil Sie Ihren Vater nicht gekannt haben.«
Der andere blickte mir auch in die Augen.
»Woher wissen Sie das?«, fragte er. Er war erregt.
»Ich weiß es«, sagte ich, »ich weiß es ganz bestimmt. Oder ist es nicht so?«
»Bitte verlassen Sie das Restaurant.«
»Gleich, aber noch eine Frage –«
»Bitte verlassen Sie sofort das Restaurant!«
»Ist Ihr Vater –«
»Hinaus!«, rief der Wirt, und aus dem Hintergrund des Lokals tauchten zwei hagere dunkle Küchenmenschen auf, auch schaute man uns bereits zu, mein Bekannter zog mich schon lang am Arm, und so ging ich schließlich, nicht ohne nochmals einen Blick auf meinen Großvater zu werfen, der plötzlich eigenartig überzeugend zwischen Wasserpfeifen, Kupfertellern und Pistolen herabschaute. Ich war durcheinander und erzählte meinem Bekannten, warum. Natürlich fragte er gleich, ob ich mich nicht getäuscht hätte, es gibt ja auch Ähnlichkeiten, frappante Ähnlichkeiten, die erstaunlichsten Sachen. Nein, nein, ich hatte mich nicht getäuscht. Ob ich denn das auch beweisen könnte? Was heißt beweisen, ich werde ja wohl noch meinen Großvater kennen.
»Sie schon, aber die andern …«
»Ach ja, Sie haben recht. Moment mal, die Signatur!« Da war die Signatur des Fotografen, ich erinnerte mich genau, nur der Name war mir jetzt entfallen, aber ich brauchte einzig die Reliefsignatur anzuschauen und konnte mindestens schon beweisen, dass dieses Foto von einem Schönenwerder Fotografen stammte, was doch für den Vater eines türkischen Gastwirtes in Kreuzberg etwas seltsam war. »Kommen Sie, wir gehen gleich nochmals.«
Mein Bekannter hielt es nicht für geraten, und ich musste ihm recht geben. Bis morgen sollte ich schon warten, mein Bekannter sagte sogar, er würde dem ganzen überhaupt nicht nachgehen, es sei zu ungewöhnlich und
deshalb gefährlich, aber als ich ihn fragte, ob er in einem solchen Fall nicht auch alles tun würde, um diese Umstände abzuklären, bejahte er. Er wollte mich aber begleiten, und wir machten ab, dass ich ihn am folgenden Tag kurz vor Mittag abholen würde.
Ich war äußerst ratlos und während der ganzen Busfahrt zu keinem deutlichen Gedanken fähig. Erst als ich im Zimmer der Hotelpension saß, die ich bewohnte, beruhigte ich mich wieder ein bisschen. War es möglich, dass mein Großvater irgendetwas mit diesem türkischen Wirt zu tun hatte? Wenn es so wäre, wie der Wirt gesagt hatte, dann müsste mein Großvater zum Beispiel einen außerehelichen Sohn mit einer Türkin gehabt haben, von welcher nie jemand etwas erfahren hätte. Nun war er zwar als Werkmeister in der Bandfabrik dauernd von jungen Arbeiterinnen umgeben, meistens Italienerinnen, denen er früher italienische Briefmarken für meine Sammlung abgewann, aber erstens gab es türkische Fremdarbeiterinnen zu dieser Zeit noch nicht, und zweitens war mein Großvater nicht der Mann für so etwas, es wäre auch bei den bescheidenen Verhältnissen, in denen er leben musste, kaum zu vertuschen gewesen, kurz, es kam in meinen Augen überhaupt nicht infrage.
Aber was dann?
Wieso hing ein Bild meines Großvaters, der zeit seines Lebens nie aus der Schweiz herausgekommen war und kein Wort einer fremden Sprache konnte, in einem türkischen Restaurant in Berlin, im Restaurant eines Gastwirts, von dem er, um die Unwahrscheinlichkeit voll zu machen, auch noch der Vater sein sollte?
Ich fand
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