Der Geisterfahrer
Zeit seines Lebens. Eine meiner wenigen Erinnerungen an ihn ist die an seinen Besuch bei uns in Olten, wo wir damals zu Hause waren. Wir machten einen kleinen Spaziergang, wir, das wird wohl noch mein Vater gewesen sein, meine Mutter allenfalls, vielleicht auch meine Großmutter, also die Tochter meines Urgroßvaters, aber sicher war ich dabei, denn als wir zur Gäubrücke kamen, welche über die Aare führt und welche aus zwei Brücken besteht, einer Eisenbahnbrücke und, auf denselben Pfeilern weiter unten ruhend, einer schmalen Fußgängerbrücke, einem Fußgängersteg fast, der eigentlich schon bedrohlich tief über dem stark strömenden Fluss steht, als wir zu dieser Brücke kamen und es klar wurde, dass wir da hinübermussten, weil wir auf dem Hinweg über eine breitere Brücke gegangen waren und uns nun auf dem Heimweg befanden, als meinem Urgroßvater die Unausweichlichkeit dieser Stegüberquerung, die in seinen Augen eher einer Flussbegehung gleichkommen musste, deutlich geworden war, sagte er zu mir: »Chumm Büebli, gimmer d Hand.« Ich reichte ihm meine kleine Kinderhand, welche er mit seiner ledrigen, runzligen Altmännerhand fest umschloss,
und an diesen Gang erinnere ich mich noch heute, es muss dem Achtzigjährigen ein wirklicher Trost gewesen sein, von einem Vierjährigen über die Brücke geführt zu werden.
Aber die Geschichte mit der Reise nach Basel spielte sich viel früher ab, als mein Urgroßvater noch jung war, also im vorletzten Jahrhundert, und erzählt hat sie mir meine Großmutter, und genaugenommen bin ich nicht einmal sicher, ob es wirklich mein Urgroßvater war, der da nach Basel gereist war, oder nicht etwa sein Nachbar, aber das spielt für Sie, die Sie das lesen, ja auch nicht die geringste Rolle, da Sie kaum zu den wenigen Menschen gehören dürften, die meinen Urgroßvater wirklich gekannt haben, aber sicher spielte sie sich in dem Dorf oder ausgehend von dem Dorf ab, in dem mein Urgroßvater wohnte, und damit können wir endlich die Reise nach Basel antreten, und zwar treten wir sie mit meinem Urgroßvater an, ich entscheide mich also dafür, dass die Hauptperson der Geschichte vom verspeisten Buch mein Urgroßvater war, das erleichtert mir die Vorstellung vom Ganzen, ich sehe ihn dann vor mir, wie er sich auf den Weg macht – allerdings muss ich ihn mir dann jung und sehnig vorstellen, und nicht alt und schrumpflig, wie ich ihn gekannt habe, aber da steht er, ein Kleinbauer, Gastwirt und Gemeindeschreiber des vorletzten Jahrhunderts, in seinem besseren Anzug, er hat seinen Sonntagsstock mit dem silbernen Knauf dabei und hebt zum Abschied kurz die Hand, seine Frau steht unter der Türe, mit meiner Großmutter auf dem Arm, die man sich natürlich auch noch nicht als Großmutter vorstellen darf, sondern als zwei- oder dreijähriges Kind.
Der Urgroßvater machte sich nun also mit kräftigen Schritten auf nach Basel, wo er die Herbstmesse besuchen wollte. Das tat er jedes Jahr, und er bestand darauf, allein hinzugehen, obwohl das auch ein möglicher Familienausflug gewesen wäre, oder ein Gesangvereinsvergnügen, mehrstündige Fußmärsche zu solchen Anlässen waren damals nichts Außergewöhnliches. Aber er muss ein großer Eigenbrötler gewesen sein und wollte diesen Tag für sich haben.
So lassen wir ihn also ziehen, einer verwickelten und verzwickten Geschichte entgegen, von der er bei seinem Aufbruch noch nichts ahnt, die ihm aber noch selbigen Tags in der großen Stadt am Rheinknie zustoßen wird.
Zweites Kapitel
D en Weg kannte er, er führte durch mehrere Dörfer, eines hieß Mumpf, Möhlin ein weiteres, Kaiseraugst und Schweizerhalle hießen andere, mit deren Namen damals weder drohende Kühltürme noch schwelende Chemielagerhallen verbunden waren, sondern der »Adler« mit dem einen und der »Ochsen« mit dem anderen, und da der Herbsttag wolkenlos und warm war, musste mein Urgroßvater mehr als einmal einkehren und einen Zweier Weißwein trinken, und im »Ochsen« in Schweizerhalle kam ein Speckteller dazu, denn da war es zwölf Uhr, und er war vier Stunden unterwegs.
Nach dem Imbiss blieb ihm noch eine Stunde Weges, für die er sich etwas zusammennehmen musste, aber dann war er in Basel und wurde wieder munter, als er zwischen den Ständen der Herbstmesse durchging und sich anschaute, was es alles zu kaufen gab, Hemden, Kragen, Gürtel, Lederzeug, Hosenträger, Anzüge, Westen, Gamaschen, Schuhe, Hühneraugenhobel, Rasiersteine, Shag-Pfeifen, Feuerzeuge,
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