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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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Gastwirt übersetzte hastig, was ich sagte.
    »Dieses Bild«, fuhr ich fort, »haben zwei Türken, die in Schönenwerd wohnten, vor dreißig oder vierzig Jahren beim Fotografen gestohlen. Die beiden haben sich später gegenseitig im Streit umgebracht. Es waren Brüder. Wenn du der Sohn des einen bist, dann haben sie dir ein falsches Bild von deinem Vater geschickt.«
    Jetzt besprachen sich die sechs. Dann hob der Gastwirt seinen Kopf und sagte zu mir:
    »Du bist verurteilt zum Tode wegen Verrats.«
    Als die zwei äußersten der Reihe jetzt aufstanden und die Krummsäbel unter dem Bild meines Großvaters in die Hand nahmen, stand mir fast das Herz still.
    »Aber warum?«, rief ich, »warum? Ich sagte nur die Wahrheit.«

    »Frage Arman, unsern Führer«, sagte der Wirt und erhob sich, zusammen mit den andern, die noch saßen.
    Eine Seitentüre ging auf, und ein etwas fetter, jüngerer Mann kam herein, vor dem sich alle verneigten. Auch er trug einen gewöhnlichen Anzug von brauner Farbe. Er sprach akzentfrei Deutsch.
    »Du bist verurteilt«, sagte er, »höre warum. Wir Türken waren früher weltbeherrschend, das osmanische Reich erstreckte sich über große Teile Asiens, Europas und Afrikas.«
    Ich nickte; der Schönenwerder Atlas stieg deutlich in mir hoch.
    »Nach dem Weltkrieg hat sich das geändert. Wir wurden gedemütigt. Dann wurde Arman, sein Vater« – er wies auf den Gastwirt –, »erleuchtet. Er gründete einen Bund zur Weltherrschaft der Türken. Er selbst musste nach Europa gehen und dort sterben, um möglichst viele von uns nachzuziehen. Das ist ihm gelungen. Berlin ist nur ein Anfang.«
    »Und das Bild?«, fragte ich, »das Bild meines Großvaters?«
    »Arman war erhaben und erleuchtet. Er musste einen Europäer suchen, in dessen Körper seine Seele weiterleben wollte. Das war der Körper, den er sich erwählte.«
    »Mein Großvater«, sagte ich.
    »Arman«, sagte der neue Arman und schaute mir in die Augen.
    Ich hielt seinem Blick stand und hatte plötzlich eine sonderbare Ahnung.
    »Bitte«, sagte ich zu ihm, »zeig mir deinen Hals.«
    Der junge Arman zögerte einen Augenblick.

    »Meinetwegen«, sagte er, »dein letzter Wunsch.«
    Er öffnete seinen Kragen, und ich sah gleich die Narbe an der linken Seite.
    »Toni!«, rief ich, »Toni! Du warst in Zürich im Krankenhaus. Erinnerst du dich noch?«
    Der junge Arman sah mich lange an und lächelte.
    »Ich wusste, dass du eines Tages kommen würdest. Der Geist von Arman hat uns lange schon zusammengefügt. Als ich mit dir in Zürich im Spital war, vor fünfundzwanzig Jahren, hat dich dein Großvater einmal besucht, und mein Vater, der mich besuchte, hat ihn gesehen und erkannt. Deshalb ist mein Vater Arman geworden – der Führer heißt bei uns immer Arman – und nach dem Tode meines Vaters ich.«
    Ich war erleichtert, unglaublich erleichtert.
    »Toni«, sagte ich, »dann lasst ihr mich jetzt gehen?«
    »Ja«, sagte er, »wenn du den Eid auf unsern Bund ablegst.« Ich erschrak. »Ich kann doch nicht … Ich bin doch nicht …«
    »Sonst«, sagte Toni kalt, »sonst müssen wir dich töten.« Die Entscheidung wurde mir durch Karmans Leute abgenommen. Sie stürmten im selben Augenblick den Raum und schossen mit Maschinenpistolen um sich, Armans Leute sprangen auf, die nicht getroffenen, schossen aus Pistolen zurück oder wehrten sich mit Stellmessern, es entstand ein unmenschliches Durcheinander, ich rannte in eine Ecke des Raumes und duckte mich. Da sah ich, wie einer, der verwundet am Boden lag, zur Wand kroch und versuchte, mit einer Kerze das Bild meines Großvaters, das also auch dasjenige des großen türkischen Welteroberers
Arman war, in Brand zu stecken. Ich warf mich auf ihn, entriss ihm die Kerze und schlug auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte. Als ich von ihm abließ, war der Überfall beendet. Von Karmans Leuten lagen drei tot am Boden, von Armans Leuten fünf, und viele bluteten und stöhnten.
    Jetzt kam Toni, der am linken Arm verletzt war, auf mich zu, legte den rechten Arm um meine Schulter und sagte: »Willkommen. Nun gehörst du zu uns.«
    »Ja«, sagte ich, »ja, nun gehöre ich zu euch.«
    Ich hängte das Bild meines Großvaters ab, nahm es unter den Arm, trat aus der Hütte in den Wald hinaus und erwachte.

Das verspeiste Buch

Erstes Kapitel
    D iese Geschichte begann damit, dass mein Urgroßvater, den ich selbst noch gekannt habe, einmal nach Basel reiste. Er wohnte in einem Dorf am Rhein, fürchtete aber das Wasser

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